by martuschki
Auf der Psychiatrischen Ambulanz im ersten Pavillon am Gelände des Krankenhaues Hietzing gibt es einen weißen Raum. Er ist jenen vorbehalten, die mehr bei Sinnen sind als die anderen, die hierhergebracht werden, oft unfreiwillig. Es ist ein Raum, in dem gewartet wird und nicht behandelt; die weiße Zelle ist er keinesfalls. Auch Angehörige warten hier beizeiten, während ihre Lieben „eingestellt“ werden, mit einer meistens etwas höheren Dosis an Medikamenten als nötig – Hauptsache die Ängste, Aggressionen, psychotischen und anderen pathologischen Zustände weichen dieser Lethargie, die, ähnlich einem kleinen High, den unerträglich gewordenen Schmerz des Daseins kurzweilig eliminiert. Und so auch das oft überforderte, aber stets freundliche Personal entlastet.
Keine Bilder hängen an den etwa 6 Meter hohen Wänden des etwa 20 m2 groĂźen Raums, der nur mit SchlĂĽssel zugänglich ist. Es gibt keine Fenster und mehrere TĂĽren, die alle gleich aussehen – wohin sie fĂĽhren, bleibt rätselhaft. Das Licht ist grelles, weiĂź-silbriges Krankenhauslicht, das leisen Leuchtstoffröhren entstammt, die ein Ambiente erzeugen, in dem nichts und niemand sich jemals verstecken könnte. Ganz im Gegenteil: Exponiert wird hier, in dieser hallenden Stille, alles und jeder. Schonungslos zur Schau gestellt, erbarmungslos angeleuchtet. Der Raum wirft einen auf sich selbst zurĂĽck, aber so subtil, dass es wenig weh tut. Dass der Raum schalldicht ist, kann man annehmen; von auĂźen dringen jedenfalls keine Geräusche in das Quadrat, auf dessen niedrigen, weiĂźen Tischen keinerlei Zeitschriften liegen.
Der Weiße Raum hat eine seltsame Wirkung auf jene, die in ihm warten müssen. Er speichert nicht, er entlädt. Er zeichnet sich mehr durch NICHTS aus als durch ETWAS, und wer in sich selber den Wunsch schlummern hat, etwas in seinem Leben zu reduzieren, erfährt hier eine Art Resonanz. Die Resonanz verwandelt sich manchmal sogar in einen Vorsatz oder gar Plan – die eine denkt daran, mit dem Rauchen aufzuhören, der andere will es mal mit Fasten probieren und der Dritte stellt fest, dass es an der Zeit ist, die toxische Beziehung zu beenden, die er sich so mühsam schönredet, Tag für Tag.
Der Weiße Raum macht klarer. Er wirkt, ohne dass man es bemerkt. Wie durch ein Wunder verbessert sich in vielen Fällen nach einem „Termin“ im Wartezimmer das Befinden derjenigen, die dort gesessen und geflüstert haben; ein lauteres Sprechen wirkt aufgrund des Hallens unangebracht. Viele fühlen sich freier, besser, manchmal auch schöner als davor, und schreiben das klarerweise den Interventionen zu, die die anwesenden Ärzte DANACH an ihnen vornahmen – in ganz anderen Räumen. Verblüffenderweise wissen nicht mal die Ärzte von der Heilkraft des Zimmers, weshalb sie den Behandlungserfolg stets auf ihre eigenen Fähigkeiten zurückführen. Die Ärzte im Pavillon Zwei des Krankenhaues Hietzing sind glückliche Ärzte.
© martuschki 2019-06-17