by Svenja Fojut
Die Tage, an denen er im Park umherstreifen konnte, waren Theo die liebsten. Er lief über die grüne Wiese, spürte das Gras unter seinen Füßen kitzeln, beobachtete, wie sich das Sonnenlicht auf dem kleinen See in der Mitte der Grünanlage spiegelte – und vor allem hörte er zu. Er hörte zu, worüber die anderen Menschen redeten, und sammelte ihre Wörter ein. Machte aus ihnen seinen eigenen Schatz.
Nicht jeder verstand, warum er das tat. Seine Mitschüler*innen versanken lieber in den virtuellen Welten eines Videospiels und sogar seine Mutter fragte ihn gelegentlich, ob er nicht lieber mehr mit Gleichaltrigen unternehmen wolle. Es stimmte, er hatte nicht viele Freunde, aber Theo fühlte sich im Park niemals einsam. Er war umgeben von Wörtern, die immer, wenn sie benutzt wurden, eine neue Ebene der Bedeutung erhielten, und allein der Zauber der aneinandergereihten Buchstaben machte die echte Welt für ihn faszinierender als es eine künstliche auf dem Bildschirm je sein könnte. Und ebenso wenig wie künstliche Welten brauchte er künstliche Freundschaften.
Theo lauschte einem Mann, der über chemische Fachbegriffe dozierte und nahm das Wort „Reaktionen“ mit sich. Im Gras las ein anderer Mann das Buch „Ein schmerzender Fleck“ von Noah Storal, hinter ihm erzählte eine ältere Frau einen Schwank aus ihrer Kindheit. Es geht um ihre Erinnerungen, überlegte Theo, und schrieb „Erinnerungsreaktionen” in ein kleines Büchlein, das gefüllt war mit hineingekritzelten Wörtern, die darauf warteten, ausgesprochen und mit Sinn erfüllt zu werden.
Von einer Parkbank aus mischte sich die tränenerstickte Stimme einer jungen Frau mit der heiteren Erzählung der älteren Dame. „Es tut mir leid, meine Gefühle reichen nicht mehr”, schluchzte sie ihrem verzweifelt aussehenden Gegenüber entgegen, und Theo sah zu, dass er von ihnen wegkam. Er hörte gerne anderen Menschen zu, aber es gab Grenzen. Außerdem sammelte er lieber positive Wörter als traurige. Auf seinem Weg begegnete ihm eine Spinne, die ihr imposantes Netz webte und in Theos Kopf entstand das Wort „Gefühlsverwoben”. Er schrieb es auf die Titelseite seines Buches, als er in wenigen Metern Entfernung einen älteren Herrn und seinen Ziehhund erblickte.
„Hallo Alfons, hallo Prinzessin”, rief er, während er zu ihnen hinüberrannte. „Beste Grüße, Theo”, antwortete der Mann, „wieder auf der Suche nach neuen Wörtern?” „Ja, ich habe eben ein ganz besonderes gefunden. Es lautet ‚Gefühlsverwoben‘“, berichtete Theo stolz und tätschelte Prinzessin den Rücken. Der Mann lächelte – aber nicht nur er. Neben ihm war ein blondes Mädchen aufgetaucht, das sich neben Theo ins Gras fallen ließ und ebenfalls begann Prinzessin zu kraulen. „Gefühlsverwoben klingt wundervoll”, sagte sie und als sie Theos Wort aussprach, begann die Sonne für ihn plötzlich wärmer zu strahlen, die Welt heller zu leuchten und seine aneinandergereihten Buchstaben erhielten eine Bedeutung.
© Svenja Fojut 2022-07-17