Der Zauberschuh

Albina Hovhera

by Albina Hovhera

Story

„Eins-zwei-drei, mein Bräutigam, sei dabei!“, rief Lena die Zauberworte in die Dunkelheit hinaus und schmiss ihren Schuh vom Balkon hinunter. „Jetzt müssen wir warten – wer den Schuh findet, wird zu meinem Bräutigam“, erklärte sie mit ernster Miene, „so steht es im alten Buch der Wahrsagerei“.

Es war der 6. Jänner, der Weihnachtsabend in Russland, und der alte Brauch besagte, dass in der Nacht am Heiligabend unverheiratete Mädchen in die Zukunft hineinblicken und ihren zukünftigen Mann sehen können. Es gibt verschiedene Arten der Wahrsagerei: Kerzenschmelzen, Spiegelaufstellen, Kartenauflegen und sogar Flammenwerfen; wir entschieden uns fürs Schuhwerfen: Es war einfach, schnell und lustig.

Meine Freundin war als Erste dran: „Ich bin schon 17 und möchte meinen Bräutigam endlich mal kennenlernen“, lachte sie und warf mit einem Schwung einen alten, ausgelatschten Plüschpatschen hinunter. „Mit diesem Patschen wirst du aber keinen Prinzen anlocken“, kicherte ich darauf los.

Nach einer Viertelstunde hielt Lena das lange Warten auf den Prinzen nicht mehr aus und ging selbst hinunter: „Vielleicht hat er den Schuh schon gefunden, weiß aber nicht, wo er anläuten soll“. Ich blieb oben und wachte über das Ganze vom Balkon. Dann hörte ich Lenas enttäuschte Stimme: „Nein, das kann doch nicht wahr sein“, rief sie gereizt aus, „Tuzik, gib jetzt meinen Schuh zurück“, – unter der Bank saß der Nachbarshund und kaute genüsslich an ihrem Patschen.

„Es wird wohl nichts mit dem Bräutigam heute“, schrie sie zu mir herauf und ging zur Eingangstür. Sie riss am alten rostigen Griff, aber die Tür ging nicht auf. „Die Tür steckt! Hilf mir bitte“, ­– ich lief sofort hinunter; von beiden Seiten kämpften wir mit der Tür, wir drückten, pressten und zogen daran mit aller Kraft, aber die alte Tür steckte fest.

Die arme Lena hatte nur eine leichte Jacke und Hausschuhe an und fror sehr. Ein Passant ging eilig vorbei; „Entschuldigung, können Sie uns bitte helfen“, schrie Lena verzweifelt hinüber. Sie sah die Figur aus der Dunkelheit näher herantreten; es war ein junger Mann: blaue Augen, schönes Lächeln, groß und schlank.„Natürlich“, sagte er, riss mit einem Ruck an der Tür und öffnete sie. „Tausend Dank“, bedankte sich Lena herzlich, „kommen Sie doch bitte auf einen Tee zu uns herauf“, lud sie ihren Retter ein.

Der junge Mann saß im Wohnzimmer, schlürfte am heißen Tee und schaute Lena verlegen an. „Möchtest du vielleicht morgen mit mir ins Kino gehen?“, fragte er dann schüchtern und schenkte ihr ein schönes Lächeln. „Siehst du, es hat funktioniert! Und du hast daran nicht geglaubt“, sagte Lena mit zufriedener Stimme und zwinkerte mir schelmisch zu.

© Albina Hovhera 2022-01-06

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