M: Seit Jahren arbeitest du nun wie ein Tier! Hier eine Hinrichtung, dort eine Enthauptung. Von einer Ortschaft in die nĂ€chste â auch sonntags! â und das Ganze mit einer ProfessionalitĂ€t. … Die Leute lieben dich! H: Ich weiĂ. M: Was, ich weiĂ? Mensch! Ein, zwei Jahre noch durchhalten. Vielleicht nehmen wir ja doch noch die Doppelaxt ins Repertoire auf. Schaden kann es nicht, zumindest dir nicht, wenn du verstehst. Aber dann stehen dir die groĂen Schafotte Kontinentaleuropas offen! H: Ja. M: Was, ja? Herrje. Warum willst du nicht hinaus? Was ist denn? Hast du deine Kopfmaske vergessen? H: Nein. M: Hast du das Handbeil nicht ausreichend geschliffen? H: Doch. M: Ist dir nicht gut? Bist du zittrig? Brauchst du einen Schnaps? H: Nein. M: Gott! Sprich doch endlich, sonst suchâ ich mir einen anderen Scharfrichter, den ich vertrete. Was willst du denn ohne AuftrĂ€ge machen? H: Also. M: Ja, endlich! Weiter bitte. H: Kannst du dich an diese Doppelexekution vor zwei Wochen erinnern? M: An die Hinrichtung, an den vollen Geldbeutel und an die Flasche Absinth nachher. H: Einer von den zweien war ein Ă€lterer Mann. Verwirrt und aufgebracht, aber er wollte unbedingt noch etwas loswerden. M: Die brabbeln aber doch alle noch in ihren letzten Minuten. Wie oft hast du dir schon solch desperate ErgĂŒsse anhören mĂŒssen? H: Eh, aber ihn kann ich einfach nicht vergessen. UnablĂ€ssig muss ich daran denken. Nachts bekomme ich mittlerweile kaum mehr ein Auge zu. Es ist eine Idee, die wie ein kleines Samenkorn allmĂ€hlich zu dieser mĂ€chtigen Eiche heranwĂ€chst. M: Welche Eiche? Egal. Na, was hat der Alte denn gesagt? Spann mich nicht auf die Folter! H: Er hat gemeint, dass er noch nicht sterben könne, denn er hielte noch Geheimnisse, die nur er kenne und wenn er ginge, dann nĂ€hme er diese mit ins Grab. M: Langweilig. Das ist doch auch bei jedem so. H: Oft zumindest, ja, aber er hat fast schon offenbart, dass es LĂŒgen seien, die er noch auflösen wolle. LĂŒgen, die ĂŒberlebten, wĂ€hrend die Wahrheit mit ihm endgĂŒltig und auf immer stĂŒrbe. Unwiederbringlich. M: Deinen Konjunktiv solltest du wirklich langsam ein bisschen aufpeppen. Aber, na und? H: Verstehst du nicht? Das ist der Mord an der Wahrheit! Ich töte, was wahr ist! M: Spinnst du jetzt? H: Nein! Hör doch. Warum töten wir die ganzen Leute denn? M: Wegen des Geldes? H: Du vielleicht. Ich, weil ich denke, dass die Welt ohne diese Bestien ein besserer Ort ist. Aber die Wahrheit ist doch das Pure, die Essenz unserer rechtschaffenen Leben. M: Ha! H: Wenn wir die Wahrheit töten, verleihen wir der LĂŒge und dem ganzen Bösen eine EndgĂŒltigkeit im Diesseits. Verstehst du? Ich bin Henker geworden, mit dem Traum, die Welt zu verbessern und nicht, um das Negative hier durch meine Taten zu binden! M: Deshalb all der Trubel? Sieh es doch anders. Jede LĂŒge ist doch einfach eine persönliche Perspektive. Eine Wahrnehmung. H: Du meinst, dass LĂŒgen bestimmte Formen von Wahrheiten sind? M: Superb! Ja, so könnte man das wohl sagen.H: Hm. Kann das wahr sein?
© Stefan Pircher 2021-08-04