Manchmal wird man durch einen Vorfall oder eine Begegnung urplötzlich in eine Situation oder Begegnung in der Vergangenheit versetzt. So geschah vor kurzem in einem Seminar ĂŒber Diversity und interkulturelle Kommunikation, das ich bei WIFI abhielt. Eine der Teilnehmerinnen wer eine junge sehbehinderte Frau. Sie trug eine Blindenarmbinde und einen Blindenstock. Ihre Augen sahen völlig normal aus, schön klar, ohne TrĂŒbung oder Anzeichen von Blindheit.
Das erinnerte mich an eine Begegnung zu meiner Studienzeit. Ich war so um 20, bewohnte eine Einzimmerwohnung ohne KĂŒche, mit bloĂ einer alten elektrischen Kochplatte; Klo am Gang. TagesĂŒber ging ich auf die UNI und am Abend arbeitete ich bei McDonalds. Beim Ausgehen aus dem Haus und beim Nach-Hause-Kommen sah ich immer zwei Ă€ltere Frauen im Stiegenhaus, die miteinander tratschten. Ich grĂŒĂte sie immer und hetzte mich zur UNI oder zur Arbeit.
Eines Tages als ich aus dem Haus ging, traf ich die zwei Nachbarinnen wie gewohnt im Stiegengang und ich grĂŒĂe sie. Eine der Frauen wandte sich an mich und fraget âSind Sie der freundliche Herr, der immer grĂŒĂt?â. Ich bejahte die Frage; die Frage schien mir aber irgendwie komisch. Denn sie sieht mich jeden Tag und weiĂ, dass ich immer aus dem dritten Stock herunterkomme, dachte ich. Die Frau wollte mich zu einem Kaffee und Kuchen einladen. Ich bedauerte, die Einladung nicht annehmen können, weil ich auf die UNI muss. Bei diesem ersten kurzen TreppenhausgesprĂ€ch stellte ich fest, dass die zwei Frauen Schwestern waren und, dass die Frau, die mich zu Kaffee und Kuchen einladen wollte, voll blind war. Ohne ihren leeren Blick hĂ€tte man ihr das aber nicht angesehen.
Ab diesem Tag habe ich gespĂŒrt, dass die alte Dame mich immer auflauerte, um mich auf die Einladung festzunageln. Ich schlich mich immer auf den Zehenspitzen ĂŒber die Treppen, um ihr nicht zu begegnen und der Einladung zu entkommen. Ihr gehör war aber so sensibel, dass sie mich hörte und meinen Gang auch erkannte. Sobald ich auf ihrem Stockwerk war, hat sie sofort ihre WohnungstĂŒr aufgemacht und mich angesprochen. Ich habe ihr höflich erklĂ€rt, dass ich von der FrĂŒh bis Mitternacht in der UNI und danach bei McDonalds gebunden bin und keine Zeit fĂŒr Besuche habe.
SchlieĂlich aber konnte ich ihrem Belauern nicht entkommen und musste die Einladung annehmen, bei der auch ihre Zwillingsschwester anwesend war. Eine Stunde bewirtete sie mich und erzĂ€hlte mir allerlei ĂŒber ihre Blindheit, ihre Kindheit und darĂŒber, dass ihre â ĂŒbrigens nicht blinde Schwester, die im ersten Stock wohnte â sich um sie kĂŒmmert. Bei dieser Begegnung spĂŒrte ich, dass sie sehr einsam war; sie wollte immer in Gesellschaft sein und plaudern. Als ich weggehen und mich verabschieden wollte, hat sie mir das Angebot gemacht, dass sie mir 100 Schilling zahlen wĂŒrde, wenn ich einmal in der Woche fĂŒr eine Stunde zu einem Plaudern bei ihr vorbeischauen wĂŒrde. Ich konnte das aber aufgrund meines akuten Zeitmangels nicht annehmen.
© Latif Håvrest 2020-12-05