Die erste Erinnerung

Daniel Selent

by Daniel Selent

Story

In der Grundschule meine ich mich das erste Mal verliebt zu haben. Namen möchte ich nicht nennen, belassen wir es einfach mit E.

Sie ging vier Jahre mit mir in die Grundschule, hatte eine Zwillingsschwester, die ihr absolut unähnlich sah, und strahlte stets eine gewisse Ruhe und Reife aus, die mir unter all den anderen Mädchen besonders auffiel. Da ich selbst damals als sehr in mich gekehrt, ja regelrecht schüchtern galt, fand ich ihr ganzes Wesen anziehend. E. schien mich jedoch nie wirklich zu bemerken, ich war eben so etwas wie der Außenseiter, der Junge, den niemand wahrnimmt. Meine Freunde (ich konnte sie an drei Fingern abzählen) bemerkten sie wiederum nicht. Und das fand ich natürlich noch interessanter.

Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein Wort mit E. gewechselt zu haben. Nichtmal an ein flüchtiges “Hallo” in den Schulfluren kann ich mich erinnern. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie stets mit ihrer Schwester, ihrem Zwilling, der mehr aussieht wie die jüngere Version von E. und immer sehe ich lediglich ihren Rücken vor mir, niemals ihr Gesicht. Obgleich ich meine, ihr Gesicht und die hellblonden Haare oft über die Köpfe meiner Klassenkameraden hinweg betrachtet zu haben.

Auf einem Schulausflug in der vierten Klasse, einer Fahrt auf irgendeine Hütte in irgendeinem Kaff irgendwo in Bayern, wurde während eines langen Marschs den Berg hinauf über Mädchen geredet. Plötzlich richtete sich die Aufmerksamkeit auf mich: “Welches Mädchen findest du gut?”, fragten die Jungs um mich herum. Die Aufmerksamkeit fand ich verdächtig. Würden sie sich über mich lustig machen, mich verraten?

Ich sagte den Namen des Mädchens, das ich seit der ersten Klasse heimlich beobachtet hatte. E.

Tatsächlich kann ich mich an die Reaktion der Jungs kaum erinnern. Stummes Nicken und die Frage ging an die nächsten Kandidaten.

Zum Ende hin wurden wir dann natürlich auf unterschiedliche Schulen geschickt und ich sah E. nie wieder. Ich habe nie versucht, Kontakt aufzunehmen oder einen anderen Schritt zu wagen, dafür war dann zu viel Zeit vergangen. Sie ist nur noch eine Erinnerung, nicht genug, um schmerzhaft zu sein, aber wach genug, um den Anfang zu bilden.

Das ist alles lange her. Keine richtige Liebesgeschichte, ich weiß, doch ich wollte sie erzählt haben und an den Anfang dieser Reihe an Geschichten setzen. Weil ich rückblickend davon überzeugt bin, dass diese Begegnung (oder vielmehr das Fehlen davon) exemplarisch für die nachfolgenden Geschichten steht. Eine verzweifelte Aneinanderreihung von verpassten Chancen, Worten, die nie gesagt wurden, und Worten, die ich besser niemals laut ausgesprochen hätte. Ausgestreckte Hände, die einen Finger zu fassen bekommen und sich fürchten, die Hand zu nehmen.

E. war die Erste. Das erste Mädchen, das ich aktiv und aus eigenem Antrieb heraus angesehen habe. Wo immer sie auch ist, ist sie hoffentlich glücklich.

© Daniel Selent 2025-07-23

Genres
Novels & Stories
Moods
Herausfordernd, Dunkel, Emotional, Inspirierend, Reflektierend