Die erste Kerze

Daniel Zankovitsch

by Daniel Zankovitsch

Story

Tief in der Nacht wirkt jeder Funke wie ein Waldbrand. Das verlieh den drei Kerzen, die unter dem Baum standen, um jedem Auge die Sicht zu ermöglichen, umso mehr Macht. All die Silhouetten, all die grauen Umrisse, all die angedeuteten Zweige, Blätter, Blüten und Früchte, all die Gräser, all die Insekten, Vögel, Flüsse, Hügel, Täler, selbst all die zirpenden Grillen konnten nur so wahrgenommen werden, wie sie im Licht dieser Flammen schimmerten. Jede Nacht war ungewiss, welche der Kerzen brennen würde. Da sie sich nicht gegenseitig im Licht standen, war auch nur sehr entfernt zu erahnen, dass es überhaupt mehr als eine Kerze gab. Manchmal flackerte über Jahreszeiten hinweg dieselbe, manchmal war es jede Nacht eine andere. Entfacht vom ewigen Feuer, das doch in jedem Moment ein anderes, neues war, schien auch ihr Wachs unerschöpflich. So langsam, wie es dahinschmolz, würde es wohl für eine ganze Lebenszeit genügen. Und obwohl es leuchtete, schrie das Feuer doch den Ruf der ewigen Vergänglichkeit in den Wald. Es hallte jedoch nur leise und kaum wahrnehmbar.

In dieser Nacht brannte die erste Kerze. Mit ihrer sanften, wärmenden Flamme, die in einem beruhigenden Rhythmus flackerte und die Stille der Nacht mit einem wohligen, vertrauten Bild untermalte, zeichnete sie die wunderschönsten Gebilde in die Ungewissheit der Finsternis. Fast konnte man dabei vergessen, dass es Nacht war. So sorglos und im Einklang schlief alles. Die Blätter des Baumes wirkten wie Segel, die durch die Zeit navigierten und mit leichtem Rückenwind alle Tautropfen in die strahlende Zukunft zu tragen vermochten.

Neben den Blättern entfalteten sich prachtvolle Blüten in glitzernden und doch geschmeidigen Farbtönen, die wie ein buntes Feuerwerk den Baum verzierten. Es wirkte, als wäre jede von ihnen ein weiteres vor Freude, Frieden und Zufriedenheit strahlendes Gesicht, welches die frische Kraft aus den Wurzeln des Baumes wie ein Drache in die kühle Nachtluft spie. Gleichzeitig waren sie wie Wiegen, die die wildesten, fantastischsten und einzigartigsten Träume in sich trugen, um sie eines Tages geführt von einer leichten Brise des Morgens in die fruchtbare Erde zu pflanzen und ihr verzweigtes Wachstum zum Himmel zu bestaunen, gespeist vom klaren Wasser des hypnotisch rauschenden Bächleins. Umgeben von frisch gedeihenden grünen Gräsern, wohnte in ihnen die Vielfalt des Lebens.

Die saftigsten Früchte luden zur Verkostung ein, um den Moment mit ihrer betörenden Süße zur Ewigkeit werden zu lassen. Lächelnd konnten die weißen Tauben wie Sternschnuppen durch den leeren Raum gleiten, während sie dem Klang der Ruhe lauschten. Nur ab und zu huschte der Blick verunsichert auf die Kerze am Fuße des Baumes, nur zögerlich konnte man bei dieser Schönheit in das ewig starrende Auge der Vergänglichkeit blicken.

© Daniel Zankovitsch 2024-02-14

Genres
Spirituality, Self-help & Life support
Moods
Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Reflektierend
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