Die Fenster von Chartres – Tor zum Licht

Kathrin Schink

by Kathrin Schink

Story

Nie habe ich so prächtige farbige Fenster gesehen. Beredt sind sie. Ganze Geschichten leuchten auf die Betrachtenden herab, die sich im Innenraum dieser Königin der Kathedralen aufhalten. Unzählige wundersame Dinge gibt es zu entdecken.

Eines der Fenster hat, laut einer Entdeckung des französischen Autors und Journalisten Louis Charpentier, ein Loch, das mit Absicht offen gelassen wurde. Am 21. Juni, dem Tag der Sommersonnenwende, fällt um 12 Uhr mittags ein Sonnenstrahl auf einen Stein im Fußboden, der sich deutlich von den anderen unterscheidet. Leider war es mir nicht vergönnt, dieses Schauspiel zu beobachten.

Fasziniert, ja eigentlich verliebt, betrachtete ich die Außenseiten der Fenster. Eisenbänder und Eisenstangen geben den gigantischen Fernstern Halt. Sie bilden fast symmetrische Muster. Wie sollten auch die bleiernen Einfassungen allein die vielen Glastäfelchen an ihrem Platze halten? Unzählige Splinte, geformt wie Hippen oder Spiralen, sitzen auf den Eisenbändern. Ich versuche herauszufinden, ob sie mit den Scheiben oder dem Blei verbunden sind. Ganz klar ist das von Ferne nicht zu erkennen. Die spätere Sichtung der Fotos zeigt: Viele sitzen im Blei, doch bei weitem nicht alle.

Mir fällt ein, was mir eine gute Freundin erzählte. Sie trug sich mit dem Gedanken eine Ausbildung in Sachen bleiverglaste Kirchenfenster zu machen und versorgte mich mit Informationen, als sie von meinem Plan hörte, nach Chartres zu reisen. Dass Glas eine ewige Schmelze ist, hatte ich irgendwo schon einmal gehört. Glas fließt also immer. Eine Buntglasscheibe wird mit den Jahren oben dünner und unten dicker.

Mein Kopfkino präsentierte mir sofort tropfenförmige Buntglasscheiben, die unten das Blei überwallten und oben sich allmählich vergrößernde Luftschlitze ließen und ab einem bestimmen Stadium mit leisem „Plopp“ und lautem „Klirr“ zunächst den Besuchern auf den Kopf und dann auf die Steine des Fußbodens fielen. Durch die entstanden Löcher schwebten Wesenheiten der Lüfte, die den heiligen Grund besuchen wollten, der von Menschenhand überbaut wurde und ihnen so den Zutritt und freies Spiel verwerte. Ganz leise hörte ich sie, in Anlehnung an ein bekanntes Haiku*, wispern: „Nimm diese, sagt das Mondlicht, diese leuchtend schön.“ Ein leises Kichern und ein zartes „Plopp“ ertönt. – Huch! …

* Ein Haiku ist eine japanische Gedichtform, die der Regel 5 – 7 – 5 folgt, bezogen auf die Anzahl der Silben in der jeweiligen Gedichtzeile.

© Kathrin Schink 2020-12-02

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