Die Frau Lehrer

Ass_ausdemÄrmel

by Ass_ausdemÄrmel

Story

Nein, im Titel ist kein Fehler. Die Rede ist von meiner Lehrerin in den 1980ern. Ich war damals 8, 9 Jahre alt. Das Gendern war noch nicht erfunden bzw. nicht bis in unser Provinzstädtchen vorgedrungen. Und so nannten wir sie, wenn wir aufzeigten, eben einfach “Frau Lehrer”. Es war auch egal ob weiblich oder männlich, eine Autorität war sie so oder so.

Sie war eine gute Lehrerin. Eine, die für ihre Strenge ortsbekannt und gleichermaßen angesehen wie gefürchtet war. Eine von der Sorte, die Eltern schätzten, weil sie ihren SchülerInnen nichts durchgehen ließ, sie keinesfalls verweichlichte und jedenfalls “gymnasiumsreif” machte. Heutzutage schrillen ja gleich die Alarmglocken, wenn man so etwas über Lehrpersonal hört. Aber auch das war noch kein Thema anno dazumal.

Ihr Unterrichtsstil war, um es mit dem Titel einer damals auch populären TV-Serie zu sagen, hart, aber herzlich. Zumindest hatte ich sie über viele Jahre dankbar so in Erinnerung. Mit zunehmendem Alter und der Reflexion über manches Kindheitserlebnis, änderte sich meine Sicht darauf. Aus Dankbarkeit wurden Zweifel, die Zweifel wuchsen sich zu Bedenken aus. Heute bin ich mir sicher: Sie hat es wohl gut gemeint. Nur leider oft das Gegenteil davon gemacht.

Was mir aus meiner Volksschulzeit für immer in Erinnerung bleiben wird: Der lange Lulatsch, der sich regelmäßig weinend hinter dem Tafelflügel versteckte, wenn er beim Vorsingen vor versammelter Klasse ausgelacht wurde, weil er versagte; Der verträumte Schlauberger, der zwar auf jede Frage der Frau Lehrer altkluge Gegenfragen stellen, sich aber nach dem Toilettenbesuch den Hosenschlitz nicht wie seine gleichaltrigen Kameraden zumachen konnte; Die kleine Strebsame, die kunstvolle Zierzeilen in ihr Schularbeitsheft zeichnete, anstatt sich auf die Rechenaufgaben zu konzentrieren, und damit ihre “Gymnasiumsreife” gefährdete.

Diese und andere Anekdoten wurden beim Mütterklatsch im Kaffeehaus heiter ausgetauscht und sorgten auch noch Jahre später beim Klassentreffen für Lacher. Die Spuren, die solche Begebenheiten auf Kinderseelen hinterlassen können, blieben dagegen weitgehend unbemerkt. Vorgeführt, über einen Kamm geschoren und rein auf Leistung programmiert zu werden, ist nichts, worauf man gern und wohlwollend zurückblickt. Und schon gar nichts, worauf man als Pädagogin stolz sein darf!

Es fällt nicht leicht, eine Person anzuprangern, der man vermeintlich viel zu verdanken hat. Zumal sie sich selbst nicht mehr dazu äußern kann – Gott hab sie selig, die Frau Lehrer. Noch schwerer fällt es mir aber, weiterhin zu schweigen. Und damit ist alles gesagt.

PS: Der Lulatsch führt heute übrigens erfolgreich den örtlichen Familienbetrieb in 3. Generation – und singt vermutlich nur mehr unter der Dusche. Der Schlauberger ist Dr. phil. an der Universität. Sein offener Hosenstall war ganz offenbar kein Hindernis. Und ich zeichne noch immer Zierzeilen.

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© Ass_ausdemÄrmel 2020-10-16

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