by Aphrael
Der Job nervt, die Uni stresst und die Mitbewohner meckern nur. Noch nie war ein wildes Wochenende nötiger. Meine Stammbar beginnt sich langsam mit partywütigen Nachteulen zu füllen. Unser Motto: Party like there is no tomorrow. Leicht mit dem Kopf zur Musik wippend sitze ich an der Bar und schaue in die Menge. Der Gin Tonic in meiner Hand besteht nur noch aus ein paar schmelzenden Eiswürfeln und zwei abgenagten Zitronenscheiben. „Kann ich dir noch was Gutes tun?“, fragt mich der Kellner und schaut runter auf mein leeres Glas.
„Danke, aber ich warte noch auf eine Freundin.“ Mit einem Nicken räumt er mein leeres Glas ab. Ohne das Glas haben meine Hände keinen Halt mehr und ich beginne nervös mit den Fingern auf der Theke herumzutrommeln. „Ich würde mich als Gesellschaft anbieten.“ Die tiefe Stimme gehört zu einem Typ mit kurzem Haar, normaler Statur, der vielleicht einen halben Kopf größer ist als ich. Er trägt einen etwas ungepflegten Bart, strahlt mich dafür aber aus intensiv grünen Augen an. Hin- und hergerissen, was ich von ihm halten soll, bin ich gerade im Begriff sein Angebot freundlich abzulehnen, als mein Blick auf sein T-Shirt fällt: „Oh mein Gott, ich liebe System of a Down“, quieke ich erfreut. Das stimmt tatsächlich. Mein Musikgeschmack reicht meist nicht über die aktuelle Chartliste hinaus, sodass meine Liebe für diese Metall-Band mir wenigstens etwas Profil verleiht. „Was ist dein Lieblingsalbum?“, fragt er, während er sich den Stuhl neben mir zurechtrückt. Zum Kellner hingewandt: „Zwei Tequila und zwei Gin Tonic.“ Die Entscheidung über die Gesellschaft und Drinks ist somit scheinbar getroffen. Nach einer viertel Stunde haben wir alle Lieblingslieder, Konzerte und möglichen Textinterpretationen abgeklappert sowie eine zweite Runde Tequila geext. Als er schon wieder zwei Finger hebt, um weitere Drinks zu bestellen, winke ich eilig ab. „Für mich bitte nicht“, insistiere ich. Normalerweise bin ich eher der Weinschorlen-Typ. Selbst den Gin Tonic hatte ich eher aus Frust als aus Lust bestellt. „Quatsch, das schaffst du schon.“ Er trinkt seinen Shot und blickt mich auffordernd an. „Ich kann wirklich nicht.“ Verlegen und um meinen Worten mehr Ausdruckskraft zu verleihen, kreuze ich die Arme vor meinem Gesicht. „Du musst aber“, lachend nimmt er das Glas und versucht es an mich heranzuführen. Ungeschickt weiche ich aus und falle dabei fast vom Stuhl. „Ich bin eh stärker. Du kannst dich nicht drücken.“ Meinen Widerstand ignorierend greift er nach meinem Arm. Sein Griff ist fest und unnachgiebig. Gerade will ich nachgeben, als ich eine Hand an meiner Schulter spüre. „Hey, da bist du ja. Ich suche dich schon“, sagt eine Fremde und blickt mir dabei fest in die Augen.
Und dann vergehen drei Sekunden. Erste Sekunde: Ihr Blick sagt mir, dass sie wirklich mich meint und mich nicht verwechselt hat. Zweite Sekunde: Mein Blick sagt ihr, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Dritte Sekunde: Ihr Blick sagt mir, dass sie mich sieht und dass sie mich nicht allein lassen wird. „Das ist meine Freundin, auf die ich gewartet habe“, sage ich zu ihm. „Und wir müssen jetzt auch sofort los.“ Sie zieht mich von meinem Stuhl und durch die Menschenmenge. „Alles gut?“, fragt sie. Ich nicke. Sie umarmt mich kurz und geht. Was zurückbleibt, ist die Erinnerung an eine Fremde und drei Sekunden.
© Aphrael 2023-09-24