by Leon Grüne
Haben Sie sich schon einmal Gedanken gemacht, wie die Sagen und Mythen, die wir kennen, entstanden sind? Ich selbst habe mich das nie wirklich gefragt, aber wenn ich sehe wie der Nebel sich über die Hügel legt, dann glaube ich allmählich eine Ahnung davon zu bekommen.
Ich habe erst vor kurzem dieses Plätzchen, hier am Waldrand, für mich entdeckt und betrachte ihn jeden Morgen, wenn er geräuschlos von den Hügeln auf das Dorf hinabrollt, wo er sich langsam lichtet. Es ist immer wieder beeindruckend und faszinierend zugleich, wie er zwischen den Bäumen hervorkommt und sich langsam immer weiter fortbewegt, als wenn er von etwas getrieben werden würde. Meistens komme ich hierher, um ein Buch zu lesen, aber manchmal genieße ich auch einfach bloß die Aussicht, die ich von hier oben habe. Es ist ein schönes Fleckchen Landschaft und wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, dass dies hier der Himmel auf Erden wäre. Manchmal ist Wissen ein Fluch, das können Sie mir glauben, denn es kann uns Illusionen rauben, Träume zerstören und unsere Hoffnung nehmen. Mein Vater sagte mir einmal, dass die Dummen immer glücklicher als die Schlauen seien und ich glaube inzwischen habe ich verstanden, was er mir damit sagen wollte.
Wenn ich hier, auf meiner kleinen Bank am Waldrand, sitze und über die Hügel schaue, habe ich tatsächlich das Gefühl, dass es besser wäre, wenn ich fortgehen würde. Vielleicht würde ich es auch tun, wenn ich nicht wüsste, dass ich auch anderswo keine Ruhe vor ihren Gesängen finden würde. Wie ich ihnen bereits sagte, ist Wissen ein Fluch. In diesem Fall wahrscheinlich sogar mehr, als Sie es mir glauben würden.
Die Hügel, von denen ich Ihnen erzählt habe, sie sind nichts anderes als Gräber. Die Ruhestätten von Männern, Frauen und auch Kindern, die damals im Mittelalter, während der Pest, eines grausamen Todes sterben mussten. Sie sind diejenigen, die Gottes Zorn auf sich nehmen mussten und dafür mit ihrem Leben bezahlten. Sie sind die Verdammten, deren Seelen dazu angehalten sind, auf ewig hier zu verweilen, um zu leiden und ich bin dazu verdammt ihr Leid mitzuertragen. Es ist ein grauenvolles Geräusch und auch nach all den Jahren, die ich ihren Gesängen schon zuhöre, habe ich mich noch immer nicht daran gewöhnen können.
Selbst, wenn ich wüsste, wie es damals angefangen hat, dann würde ich es Ihnen nicht sagen, denn ich möchte Ihnen das Leid ersparen, welches ich jeden Tag aufs Neue erleben muss. Auf irgendeine Art und Weise scheine ich eine von Gottes Türen geöffnet zu haben und anstatt sie wieder zu schließen, habe ich sie so weit aufgestoßen, dass ich sie nie wieder schließen kann.
Ich könnte Ihnen noch mehr von den Hügeln und den armen Seelen, die in ihnen gefangen sind erzählen, doch jetzt muss ich mich auf den Weg machen, denn ich sitze schon viel zu lange hier, während ich dies hier schreibe.
Der Nebel kommt und ich habe Angst hier zu sein, wenn die Toten zu singen beginnen.
© Leon Grüne 2021-04-17