Am ersten meiner Tage wurde ich schon als kleine Knospe von dem warmen, zärtlichen Sonnenlicht geküsst. Dank dieser Wärme und Zuneigung konnte ich im Laufe meiner kurzen Zeit all meine Blüten entfalten. Sie waren in einem tiefen, aber leuchtenden Rot. Wie die Farbe, welche der Himmel annimmt, kurz bevor die Sonne ganz untergegangen ist. Wenn es aussieht, als würde der Himmel in Flammen stehen. Es ist eine Farbe, die einem das Herz erwärmt, wenn man sie erst einmal so versteht wie wir. Aber was weiß ich schon, bin ja nur eine Rose. Mein Leben ist kurz und einfach, damit hatte ich Frieden geschlossen. Eines Tages kam eine Frau an unserer Hecke vorbei, sie war wunderschön. Nicht ihr Äußeres, sondern ihre Art, ihre Eleganz. Sie hatte etwas Magisches an sich, das dem Strahlen und Funkeln der tausend Sternen am Nachthimmel glich. Meine feuerroten Blütenblätter fielen ihr gleich ins Auge, sie strich mir zärtlich darüber. Danach ging sie und verschwand von dem kleinen Pfad, auf dem wir wuchsen. Die Tage kamen und gingen, der Sommer neigte sich dem Ende, ebenso wie meine Zeit. Zeit, so ein seltsames Konstrukt, man muss es nicht verstehen, um sie zu erleben. Das bisschen, was man geschenkt bekommt, ist für uns selbst die Ewigkeit, und doch sehnt man sich nach mehr.
Am kommenden Tag wollte ich noch einmal mit aller Kraft blühen, meinen Zweck erfüllen. Doch dieser Tag veränderte alles. Ein Nebelschleier hüllte mich ein und ich verlor meine Wurzeln, spürte jedoch keinen Schmerz. Trotz allem fühlte sich alles betäubt an, so einsam. Die Frau von der Lichtung war da und ein junger Mann in Gestalt eines riesigen Bären oder Wolfes? Es war etwas dazwischen. Er hatte große Klauen, die alles zertrümmern konnten. Dazu noch gefährlich scharfe Zähne und eine sehr bedrohliche Gestalt. Doch das schlimmste war sein Blick, er erschien so leer. Daraufhin wurde ich zu seiner Uhr: Ab dem Moment, an dem meine letzte Blüte fällt, wird er das Biest bleiben, welches er ist. Es sei denn, jemand verliebt sich in ihn.
Das Biest stellte mich auf einen Sockel und verwahrte mich unter einer Glaskuppel tief in seinem Schloss. Fernab von der warmen Zärtlichkeit der Sonne oder der Friedlichkeit meiner Hecke. Weit entfernt von meinen Wurzeln. Ohne Halt, ohne Familie. Zu Beginn waren wir uns gleichgültig, ich lebte unter meiner Kuppel, das Leben einer simplen Rose und er vergaß oft, dass ich existierte. Meist lief er durch diesen oder einen anderen Raum des Schlosses und knurrte alles an, was er sah. Wie kann man so ein böses Herz haben? Selbst zu seinem Personal war er so kalt, dabei waren sie seinetwegen in Gegenstände verwandelt worden. Sie kümmerten sich trotzdem weiter rührend um dieses Schloss und seinen Besitzer. Alles, was sie nicht reparieren konnten, war die Zeit selbst. Seine Gleichgültigkeit mir gegenüber änderte sich, als meine erste Blüte fiel. Das war der Moment, in dem er realisierte, dass die Zeit sich nicht von ihm abwendete, wenn er sauer war, sie lief einfach weiter.
© Julia Rößling 2022-05-09