Dann war er kein wütendes Biest mehr, sondern ein gebrochener Mann. Auch ich fühlte anders, es war kein Mitleid, was ich empfand, aber ich versuchte zu helfen. Kämpfte stärker um meine roten Blüten, um ihm ein wenig mehr Zeit zu ermöglichen. Zeit, die ich mit ihm teilen wollte. Mit einem Mal empfand ich es nicht mehr als Bedrohung, wenn er durch mein Zimmer streifte, sondern genoss seine Gesellschaft. Er führte oft Selbstgespräche, er wusste nicht, dass ich ihn hören konnte, aber ich stellte mir vor, er würde mit mir reden. Nicht jeder Käfig ist ungemütlich. Er fühlte sich schrecklich einsam, denn das Schloss war vor langer Zeit mal voller Menschen gewesen. Ironisch, da es wie ausgestorben wirkte. Das grausame Biest besaß ein Herz, welches schrecklich gelitten hatte. Nun ließ er jeden dieses Leid nachempfinden, der sich ihm näherte. Jedoch war er bei mir anders. Der einstige Prinz war ehrlich, ohne Fassaden. Schließlich hatte ich schon alle seine Abgründe gesehen, es gab nichts mehr, das mich abschrecken könnte. Nichts konnte mich fernhalten, nur diese Glaskuppel. Eine Glaswand, so dünn und fragil, aber undurchdringlich. Das Biest fühlte sich so einsam, dabei war ich genau hier. Unter der Kuppel, in die er mich gesteckt hatte, aus Angst, mir könnte etwas passieren. Doch neben meinen Blüten trage ich auch Dornen.
Mit einem Mal änderte sich jedoch alles. Es tobte ein Sturm, als eine Fremde kam in das Schloss und wurde, ebenso wie wir, zu dessen Gefangenen. Das Biest tobte wie ein Vulkan kurz vorm eruptieren. Die Türen des Schlosses wurden mit einem lauten Geräusch geschlossen und dann war es still im Schloss. Der Wind und Schnee waren wieder ausgesperrt. Nur die schweren Schritte des Biestes waren auf den Stufen auszumachen. Er schleppte sich beschwerter als gewöhnlich hinauf und verschwand in einem der Zimmer. In den folgenden Tagen redete das Personal auf den Hausherren ein, die Gefangene wenigstens in eines der leeren Zimmer zu lassen, mit einem warmen Bett anstelle des Kerkerbodens. Erstaunlicherweise gab das Biest nach und willigte ein. Vielleicht schaffen sie es doch noch sein kaltes Herz aufzutauen. Vielleicht würde er eines Tages doch noch etwas anderes als Hass empfinden. Dann könnte er sich wieder selbst im Spiegel gegenübertreten. Tatsächlich veränderte die Ankunft des Mädchens etwas. Sie begann auf ihn einzuwirken. Zunächst begann alles mit einem Abendessen, darauf folgten lange Gespräche über Bücher und Spaziergänge durch den verschneiten Schlossgarten. Der gebrochene Prinz wirkte glücklicher, war aber seltener bei mir. So sehr mich seine neue Gemütslage auch freute, etwas in mir zerbrach durch die Tatsache, dass dies nicht mein Verdienst war. Auch unser Verhältnis änderte sich, denn er achtete stets sorgfältig auf mein Wohlergehen. Er sorgte sich tatsächlich um mich. Er gab mir Fürsorge und Zärtlichkeit. Das Biest, das alles und jeden hasste, kümmerte sich um eine kleine Rose.
© Julia Rößling 2022-05-09