Die Geschwister im Café Cupido

Richard Gemba

by Richard Gemba

Story

„Aber warum?“, fragt sie ihren Bruder über den Tisch im Café Cupido hinweg.

Er lächelt bloß müde und winkt ab.

„Erklär’s mir, bitte. Warum sie und warum…“, sie unterbrach sich, um mit etwas angewidertem Tonfall den Satz zu beenden „…das?“

„Aus dem gleichen Grund,“, bricht er endlich sein Schweigen, „aus dem du so verzweifelt versuchst, Oma Gretel verständlich zu machen, wie die Welt ist. Und aus dem gleichen Grund, aus dem die Leute jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit fahren.“

Weil ich Angst habe. Weil ich Angst davor habe, dass die Welt bloß die Welt ist. Weil jede andere Heimat mich enttäuscht hat und ich lieber im Glauben an etwas lebe, das nur potenziell real ist, als ohne Heimat mit den alltäglichen Sorgen arbeiten zu müssen.

„Aber wir leben ein gutes Leben!“, fährt sie entgeistert fort. „Schau dich doch mal an! Du hast keine Kohle, du veränderst nichts, alles was ihr hier betreibt ist Schönmalerei, weil ihr euch der Realität nicht stellen wollt!“

„Leben?“, er blickt sie ruhig an. „Das nennst du leben? In der Kirche und in jedem Heimatverein wird vergewaltigt und vertuscht, um die heilige Ruhe nicht zu stören. Dein tolles Zuhause ist bloß ein perfektes Bild von Kindern, Eltern, Großeltern und dem Hund. Weihnachten bloß die Vorstellung des Lagerfeuers und der Davorsitzenden in der Nacht, die bloß heilig ist, weil wir sie nicht anrühren. Gott ist tot aber getötet haben wir nur unsere eigene Wunschvorstellung. Das Paradies ist nicht da. Nicht weil wir vertrieben wurden, sondern weil es nie existiert hat. Deine ewigen Versuche, der Oma die Welt zu erklären sind meine Straßenblockaden, sind die gleiche Suche nach Heimat.

Und was machen wir? Die wir im Schlaraffenland leben? Wir suchen uns eine neue Aufgabe, weil wir merken, dass das Schlaraffenland zwar gut schmeckt, aber auch keine Heimat ist. Wir suchen uns einen neuen Hafen der Utopie für uns und diejenigen, die noch wirklich leiden, die noch nicht das Boot in unsere Zuckerwelt erreicht haben. Wir suchen einen Sinn für diejenigen, die sich nicht in den heillosen Versprechungen des Westens verlieren sollen. Also lass mich in Ruhe mit deinem Scheiß.

Pia und unserer Utopie zu folgen mag kein Leben in Entspannung bedeuten. Aber ich kann an sie glauben und an unsere Sache glauben, ohne enttäuscht zu werden, weil der gemeinsame Weg so weit ist, dass wir das Ziel nie erreichen können und immer weiter kämpfen müssen. Ich bleibe lieber auf der Suche nach dem besseren, auf dem Weg, das Richtige zu tun, hier in diesem Feldlager der Utopie, als aufzugeben wie die tausenden anderen in ihren schönen Wohnungen, zurückgezogen und eingeknickt vor der Größe der Aufgabe, die sie alle nicht verstehen wollen. Du suchst deine Heimat, ich suche meine. Und weil ich an deiner teilhaben will, bin ich Weihnachten da, aber lass mich lieben, was und wen ich liebe.“

© Richard Gemba 2022-08-31

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