Mit dem Selbstbewusstsein ist das wie mit Ebbe und Flut. Mal kommt es, mal geht es. Mal ist es länger da, mal bleibt es länger weg. Und wie bei Ebbe und Flut haben wir keine Kontrolle darüber, wann wir selbstbewusst sind und wann nicht. Meine Theorie ist, dass sich jeder Mensch in dieser Selbstbewusstseins-Schleife aus Ebbe und Flut befindet. Um selbstbewusst zu sein, machen wir nämlich alles. Wir schießen Bilder von uns, über die wir hinterher 3000 Filter jagen, wir machen Sport, um uns danach im Spiegel zu begutachten und zu denken: „Da geht noch mehr. “ Im Prinzip ist unser Selbstbewusstsein beizeiten ein ziemlich untreuer Freund, der nur dann mal vorbeikommt, wenn er Zeit hat und abhaut, wenn es ihm beliebt. Auch wenn wir das Selbstbewusstsein dann höflich bitten, doch noch ein Weilchen zu bleiben – es zuckt nur mit den Achseln, dreht sich um und macht sich aus dem Staub. Am meisten fasziniert mich immer wieder, wie schnell uns unser Selbstbewusstsein verlässt, wenn andere Menschen ins Spiel kommen. Bei uns Frauen ist das relativ einfach: Eigentlich braucht diejenige nur etwas besser als wir auszusehen (unserer Meinung nach) oder etwas besser können und schon lodert das Feuer der Eifersucht in uns – und wir vergessen vollkommen, wo sich der Feuerlöscher dafür befindet. Nur wenige lassen solche Einflüsse kalt. Aber wer ist schon immer zu hundert Prozent im Reinen mit sich? Ich nicht, so ehrlich bin ich und ich kenne viele tolle Frauen, die aber trotzdem ihres tollen Charakters das Selbstbewusstsein eines unsicheren Teenagers haben.
All diese Gedanken wandern mir durch den Kopf, als ich am späten Nachmittag mit meiner Tasse Kaffee auf dem Balkon in der Sonne sitze und übers Leben (wie so oft) sinniere. Was wäre, wenn unser Selbstbewusstsein ein Mensch wäre? Würde er von Person zu Person unterschiedlich aussehen? Ich denke schon, denn auch Menschen sind individuell – und mit ihnen all Ihre Charaktereigenschaften. In meinem Fall wäre mein Selbstbewusstsein eindeutig eine Frau. Ein männliches Selbstbewusstsein, so meine Theorie, geht nämlich nie so hart mit einem ins Gericht wie eine Frau. Das männliche Selbstbewusstsein pfeift auch auf bestimmte Dinge und kann auch mit kleinen Imperfektionen leben. Und genauso wie wir unsere Kleidung täglich wechseln, wechselt auch unser Selbstbewusstsein sein Aussehen. Mal trägt es knallrot, um aufzufallen, ein anderes Mal lieber ein gedecktes beige. Ich finde, dass die Gezeiten des Selbstbewusstseins zum Leben dazugehören und es einfach auch akzeptiert sein sollte, dass wir nicht immer der Strahlemann oder Strahlefrau sind. In unserer heutigen Zeit ist es schließlich schon fast verpönt zu sagen, dass man von Zeit zu Zeit an sich zweifelt. Dann schon lieber faken, dass man selbstbewusst ist als ehrlich zu sein.
Irgendwie beruhigt mich dieser Gedanke, denn so wie nach Regen meist Sonne kommt, kommt auch nach der Ebbe wieder die Flut.
© Kirsten Baumgartner 2022-03-21