Die Hoffnung stirbt um fünf nach zwölf

Tom Paschold

by Tom Paschold

Story

Von der Wand starrt mich Kurt Cobain an, Zigarette im Mund, Gitarre in den Händen. Das Poster ist eingerissen, und eine der Stecknadeln fehlt. Aber das ist es nicht, was mich schaudern lässt. Es sind Kurts Augen, die mir immerzu folgen. Nicht nur hier in meiner winzigen Wohnküche, wo ich mir gerade ein Müsli zubereite. Auch draußen auf der Straße. Da höre ich seine Stimme. Sie wiederholt stets die gleichen Worte: „Ich weiß es. Und du weißt es. Aber sie wissen es nicht.“

Ich trete ans Fenster, werfe einen Blick nach unten. Autos verstellen den Hinterhof. Was für eine Scheiße! Das einzige, was mich in Zürich noch am Leben hält, sind die Graffiti, die ich nachts an die Wände spraye. Und Jeanette. Doch die ist heute Morgen ausgezogen. Ich stochere im Müsli rum. Die Küchenuhr an der Wand tickt laut in meinem Ohr. Elf Uhr dreißig. Bald hat Jeanette Mittagpause. Da will sie mich anrufen. „Dann quatschen wir noch einmal über alles.“

Die Sache mit Jeanette ist dumm gelaufen – wie fast alles in meinem Leben. Außer meiner Karriere als Graffitisprayer. Die endete zwar fast, als die Bullen mich um halb drei Uhr morgens an der Badenerstraße beim Sprayen überraschten. Doch ich entkam auf meinem Skateboard.

Mit 27 bin ich bald zu alt, um jung zu sterben, und definitiv noch zu jung, um alt werden zu wollen. Meine Freunde haben Karriere gemacht, Familien gegründet, Lebensversicherungen abgeschlossen. Und ich? Hocke hier vor einem alten Poster und schiebe eine Depression.

Die Uhr zeigt Viertel vor zwölf. Jeanettes Mittagspause beginnt. Alles ist bereit für ihre Rückkehr. Ich hab die ganze Wohnung saubergemacht, und im Kühlschrank steht eine Flasche Prosecco. Sie sagte mal, ich sei ein hoffnungsloser Fall. Stimmt nicht. Noch habe ich Hoffnung, dass ich mein Leben in den Griff kriege. Sonst wär ich schon längst aus dem Fenster gesprungen.

Die Uhr tickt weiter. Mittag. Warum meldet sie sich nicht? Vor einem Jahr lernten wir uns kennen und zogen zusammen in diese Bude an der Rosengartenstraße. Vierter Stock. Ohne Lift. Dafür mit Kakerlaken. Wir wohnen, wo alle durchfahren – in Zürichs größter Verkehrshölle. Am Anfang ging es noch. Wir waren verliebt, schwebten in der Stratosphäre. Bis zu jenem Tag, an dem sie erfuhr, dass ich ein Jenischer bin. Kein Fahrender. Nur ein Betonjenischer. Einer von denen, die es in die Städte und Agglos verschlagen hat. Und dazu noch ein Mischling.

Das Handy klingelt. Es ist Erol. Mein Kumpel. „Sorry, Erol. Ich erwarte jeden Moment Jeanettes Anruf. Sie ist heut morgen ausgezogen, und ich …”

“Spinnst du? Das war doch vor einem Jahr. Da hat sie dir den Schuh gegeben und ist nach Berlin gezogen.“

Das Handy entgleitet meinen Fingern und landet am Boden. Alles dreht sich um mich herum. „Nein“, schreie ich, torkle zum Fenster und reiße es auf. Der Boden vier Stockwerke tiefer lacht mir entgegen.

© Tom Paschold 2023-02-23

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