Den größten Tidenhub der Welt kann man zweimal am Tag in der Bay of Fundy erleben. Davon hatten wir schon während unserer Reiseplanung gelesen. Dass es aber so spektakulär werden würde, war uns damals noch nicht klar. In der Mitte der Bay of Fundy verläuft die Grenze zwischen Nova Scotia und New Brunswick. Wir fuhren die nördliche Küstenstraße von St. Andrews by the Sea über Saint John entlang der Fundy Bay, die in diesem Abschnitt noch immer über 30 Kilometer breit ist. Unser Ziel waren die Hopewell Rocks im Fundy National Park. Wegen ihres Aussehens werden sie auch Flowerpot (Blumentopf) Rocks genannt.
Der Tidenhub bei den Hopewell Rocks beträgt über unglaubliche 16 Meter. Im Vergleich dazu ist der Unterschied zwischen Ebbe und Flut an der Nordsee von 2 bis 3 Metern ein Klacks. Dieses Erlebnis wollten wir auf gar keinen Fall verpassen. Die Straße verlief durch einen wunderschönen Laub- und Nadelwald. Es war noch Anfang September, aber die Blätter begannen sich bereits gelblich zu verfärben. Der Indian Summer war nicht mehr weit.
Apropos Indian Summer. Fährt man in Kanada oder in den USA über das Land, dann fährt man automatisch durch ein Gebiet das einst von First Nations, also den verschiedenen Indianerstämmen besiedelt war und es auch zum Teil noch ist. Dieses Land um die Bay of Fundy gehörte einst dem Stamm der Mi`kmaq.
Es waren noch etwa 10 Kilometer bis an unser Ziel, da zog urplötzlich dichter Nebel auf. Das Meerwasser hatte sich schon vor einiger Zeit zurückgezogen. Jetzt aber konnte man davon gar nichts mehr sehen. Dennoch roch es nach Salzwasser und Fisch. Der Küstenwind war eingeschlafen. Es herrschte fast gänzliche Stille. Nur den Möwen und anderen Seevögeln schien diese unheimliche Stimmung zu gefallen. Nach einem kurzen Stopp fuhren wir mit einem mulmigen Gefühl weiter. Wollten etwa die Mi`kmaq Indianer uns Eindringlinge vertreiben?
Die Straße führte leicht bergan. Nach einer Rechtskurve glaubte ich den Kopf eines steinernen Riesen zu erkennen. Er lächelte. Dem Riesen standen die Haare zu Berge. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war 16.13 Uhr und der Tidenhub hatte seinen Niedrigstand erreicht. Als ich wieder aufblickte, kam wie auf Bestellung die Sonne heraus. Inzwischen hatten wir auch den Parkplatz an den Hopewell Rocks erreicht.
Eilig liefen wir bergab und standen nach einigen Metern auf dem Meeresgrund. Jetzt konnten wir die ganze Familie der steinern Riesen bewundern. Sie sahen wie die Moai, die kolossalen Steinstatuen auf den Osterinseln aus. Jeder Felsen hatte seine eigene Größe, seine Form und irgendwie sein individuelles Gesicht. Wir liefen wie Gulliver durch ein Riesenwunderland. Dabei berührte ich ab und an ihre Felsoberfläche. Sie war überhaupt nicht nass oder kalt, sondern angenehm warm. Sie wirkten so friedlich wie Figuren auf einem Brettspiel und schienen froh zu sein, mal keine nassen Füße zu haben.
Noch in Gedanken liefen wir wieder zurück auf festes Land. Die Flut verfolgte uns.
© Frank Wallner 2021-03-11