Die juckende Hautstelle

Alina Steffen

by Alina Steffen

Story

Ich zitterte im kalten Oktoberwind, doch für die paar Meter, die ich zum Haus meiner Pateneltern lief, brauchte ich keine Jacke. Die Tupperdosen unter meinem Arm machte es etwas schwer zu klingeln. Warum konnte meine Mutter diese nicht selbst zurückbringen? Meine Patentante öffnete die Tür.Verstrubbelte Haare, ein undefinierbarer Fleck auf ihrer sauber gebügelten Bluse. In den letzten Wochen war sie um Jahre gealtert. „Mia, du kommst genau richtig. Ich brauche deine Hilfe.“, begrüßte sie mich. Ich trat über die Türschwelle und wollte am liebsten sofort wieder umkehren. Der Geruch von Krankheit waberte durch den Flur, füllte meine Atemwege. Meine freie Hand ballte sich zur Faust, der Schmerz meiner Fingernägel in meiner Haut hielt mich davon ab die Nase zu rümpfen.

Meine Patentante nahm mir die Tupperdosen ab und warf diese achtlos auf die Küchentheke. „Die Pflegerin musste kurz weg, neue Handschuhe holen und Johann muss dringend auf die Toilette, aber ich schaffe das nicht alleine. Kannst du mir kurz helfen?“, fragte sie mich.

Was konnte ich darauf anderes Antworten als „Ja klar, kein Problem”?

Zusammen gingen wir ins Wohnzimmer, wo mein Patenonkel in seinem Rollstuhl vor dem Fernseher saß. Der Geruch wurde intensiver.

„Mia.“, ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ich zwang mich zu einem Lächeln. Mein einst starker Patenonkel, jetzt zusammengesackt in einem Rollstuhl. Der Kopf kahl, die Haut grau, nicht fähig, mehr als einen Satz ohne Atempause zu sagen. Meine Patentante fuhr den Rollstuhl vor die Tür des Gästeklos im Erdgeschoss. Wir packten ihn jeweils am Oberarm an und hievten ihn zur Kloschüssel. Mit einer schnellen Bewegung zog meine Patentante ihm die Hose hinunter, während ich wegsah.

„Danke Mia. Du kannst draußen warten.“, sagte sie.

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Die hölzerne Tür verschloss sich hinter mir und ich atmete mehrere Male tief durch. Hinter mir ertönte stöhnen, schmerzhafte Ausrufe, wimmern. Ich schloss die Augen. Meine Finger begannen eine juckende Stelle am Unterarm zu kratzen. Und sie kratzten. Und kratzen. Je mehr ich kratzte, mich auf den leichten Schmerz und die ach so juckende Hautstelle konzentrierte, desto weniger bekam ich mit, was sich hinter der Tür abspielte. Also kratzte ich. Bis sich die Tür öffnete und ein Schwall an Verwesungsgeruch herauskam.

Ich half meinem Patenonkel wieder in den Rollstuhl. Sein Kopf fiel augenblicklich zurück und er begann leise zu schnarchen.

„Willst du noch etwas trinken? Wasser? Cola?”, fragte mich meine Patentante. „Nein danke, ich muss gehen, muss noch für einen Test lernen.“ „Ihr schreibt jetzt schon Tests? Es ist doch gerade Mal deine erste Uniwoche.“ „Ich weiß, aber sie haben nicht Mal Mitleid mit uns Erstsemestern.“

Wir verabschiedeten uns und ich trat hinaus in die Abendsonne. Die frische Luft erschlug mich beinahe. Etwas brannte an meinem Arm. Rote verletzte Haut, aufgekratzt, bis aufs rohe Fleisch.

© Alina Steffen 2021-04-10

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