Von der A620, die ab Saarbrücken der Saar folgt, kann man die Skyline Völklingens am besten sehen, die von der Silhouette der alten Völklinger Hütte geprägt wird. Wie ein gewaltiges Gerippe aus rostendem Stahl erhebt sich das 1994 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärte Eisenwerk über Saarbrückens unmittelbarer Nachbarin und erinnert die Vorbeifahrenden an die Hochzeiten der saarländischen Montanindustrie.
Es ist ein kalter Tag, selbst für den frühen April, und dennoch haben wir uns für eine Tour durch das Hüttenareal entschieden, und nicht für die ‘World of Music Video’, die aktuelle Großausstellung in der Gebläsehalle. Durchqueren müssen wir sie trotzdem, und ohne Kopfhörer werden die Clips auf den Leinwänden hoch über unseren Köpfen zur stummen Kulisse, tauchen sie die gewaltigen Turbinen in farbiges Licht.
Draußen die Realität in Gestalt von grauem Himmel über rostbraunen Rohren, einem eisigen Wind, der durch das Industriedenkmal pfeift. Die Zigarette in meiner Hand wird zum Bindeglied zwischen mir und der industriellen Identität meiner Heimat, stellt mich in eine Reihe mit den unzähligen Arbeitern, die hier so ihre Pause verbracht haben.
Wenn sie nicht, und auch das gehört zur Erinnerung, vom NS-Regime zur Arbeit gezwungen wurden. In der Sinterhalle finden wir uns plötzlich zwischen hohen Archivschränken wieder, versuchen wir die Nummern auf den zahllosen Schubladen zu entziffern, während Stimmen uns die Namen zuflüstern, die sich mal dahinter verborgen haben, sie zu realen Menschen machen.
Und stehen schließlich ergriffen vor einem gewaltigen Kleiderberg aus den schwarzen Hosen und Jacken der ehemaligen Zwangsarbeiter, Leerstelle und Mahnmal zugleich.
Wir haben die beklemmende Installation von Christian Boltanski noch nicht ganz verarbeitet, als wir in die offene Möllerhalle hinaustreten – und uns endgültig in die Zeit zurückgereist wähnen, in der hier der Wohlstand einer ganzen Region erarbeitet wurde:
Feine Erzstaubpartikel wirbeln durch die Stahlkonstruktion, wie geradewegs aus den stählernen Lungen der Hütte ausgestoßen, die um uns her im Wind ächzt und stöhnt. Die Förderbänder der Halle verlieren sich im dichten Schleier des Feinstaubs und jeden Moment glauben wir, auf ihnen eine Lore voll Eisenerz anrauschen zu sehen.
Und doch brauchen wir nicht lange, um wieder in der Wirklichkeit anzukommen, wird der Erzstaub schon auf der Treppe, die zur Hochofengruppe hinaufführt, zu dem Schneegestöber, das er in Wahrheit ist und das der Wind durch die Hütte bläst. Und erkennen wir, dass die Bänder so stillstehen wie der Rest der Anlage.
Als wir die Aussichtsplattform erreichen, die in der schwindelerregenden Höhe von 45 Metern über der Hütte thront, hakt sich meine Begleiterin bei mir unter. Und gemeinsam blicken wir von der alten zum Stahlwerk der neuen Hütte hin, die die Tradition ins 21. Jahrhundert gerettet hat, während der Schnee um uns herum immer dichter fällt.
© Frederik Dressel 2022-08-19