Die letzte Träne

Erik Haedrich

by Erik Haedrich

Story

Ich war nie wirklich ein Mensch, der viel geweint hat. Wobei ich das eher schade fand, denn immer dann, wenn mal eine Träne rauskam, hat es sich gut angefühlt. So als hätte sich da was freigemacht, was sich lange festgehalten hatte. Ich vergoss beim Wegatmen ein paar Tränen: Für meine ersten Freunde, die starben, für meinen Vater, für Alma. Meine Tränen haben aber meist recht asynchron gewirkt. Während viele andere sofort ins Heulen ausbrachen, als jemand Geliebtes vor ihnen starb, blieb ich meistens still und fing erst dann an zu weinen, wenn ich mich in irgendeiner völlig anderen Situation befand – etwa in der Bahn oder beim Bäcker, wenn ich daran dachte, wie ich mit meinem Vater auch mal Bahn fahren musste, um sein neues Auto abzuholen, oder wie ich für Alma und mich sonntags immer Brötchen holte, während sie noch schlief, damit ich sie überraschen konnte und wie solche Momente nun für immer fort waren und nicht wiederkommen konnten. Wobei das irgendwie ironisch ist, weil Momente sowieso immer nur ein mal passieren und nicht wiederkommen konnten. Aber ihr wisst schon, wie ich das meine. Der Tod scheint das ultimative Zeichen der vergehenden Zeit zu sein, deren Vergehen man eben erst dann wahrnimmt, wenn man schon auf sie zurückblickt. Meine letzte Träne vergoss ich, interessanterweise, nicht für Alma, sondern für einen nahezu fremden Mann. Er war der Wirt meiner Stammkneipe, in die ich mich hin und wieder auch alleine hinverirrte. Vor allem war sie eine der einzigen Kneipen, die tatsächlich noch betrieben wurde. Ich habe mich nie lange mit dem Wirt unterhalten, auch wenn er oft versuchte, ein Gespräch mit mir, seinem einzig verbleibenden Gast, zu starten, reagierte ich meist abweisend, da ich einfach nur mein Bier trinken und dann wenigstens angetrunken nach Hause gehen wollte. Eines Abends ließ ich mich aber schweren Herzens doch auf eine Unterhaltung ein, wenn auch eine kurze. Ich hatte aber nicht wirklich eine Wahl.
“Warum bist du eigentlich jeden Tag hier? Treibt es dich nicht ins Abenteuer?”, murmelte der Herr an seinem grauen Oberlippenbart vorbei.
“Mich treibt überhaupt nichts mehr irgendwo hin. Ich warte nur noch auf… keine Ahnung, auf irgendwas. Was ist denn mit Ihnen?”
“Nun, ich hatte nie wirklich etwas anderes im Sinn, als hier zu bleiben. Hätte ich reisen wollen, hätte ich das gemacht, auch ohne Massensterben. Aber mir geht es hier gut und deshalb bleibe ich hier”
“Und Sie wollen dann auch hinter der Theke ersticken?”, eine zugegeben etwas grausame Wortwahl, die der Herr aber wegkicherte.
“Wenn es soweit ist, gehe ich zum Grab meiner Frau. Vielleicht ist es leichter, wenn wir auf dieser Welt nah beieeinander sind, dass wir uns in der anderen Welt wiederfinden. Aber vorher bleibe ich hier”
Ich nickte und schwieg. Am nächsten Tag zerrte es mich wieder in die Bar, sie war offen, aber komplett leer. Ich dachte, der Moment sei wohl schneller gekommen als gedacht und er würde friedlich auf dem Friedhof liegen, doch als ich hinter die Theke für ein Bier wollte, erblickte ich ihn in der Küche am Boden liegen. Er hatte ein Loch im Kopf und lag in einer Blutlache, die Küche war leergeräumt. Und wie ich ihn dort liegen sah und nachdachte, über ihn, seine Frau und Alma und alles, gesellte sich eine einsame Träne zu seinem Blut. Ein unerwarteter Tod: Einer der wenigen in diesen Zeiten.

© Erik Haedrich 2023-09-05

Genres
Novels & Stories