Selbst nach verbüßter Haft war ich für meine Verwandtschaft nicht existent. Der berühmte Onkel, Fußballstar im ganzen Bundesland, und der verurteilte Gewaltverbrecher, das passte ihnen nicht ins Bild. Keiner half mir, als ich mittellos entlassen wurde. Ich meldete mich auch nicht mehr bei ihnen. Am Begräbnis der Oma versteckte ich mich abseits, sodass mich keiner aus der Familie sah.
Nachdem alle gegangen waren, stand ich vor dem Grab und nahm allein Abschied von meiner Oma. Sie war die Einzige, die mich ein paarmal im Geheimen besucht hatte, ohne dass sie Opa davon erzählte, sonst hätte sie Streit mit ihm bekommen. Er hatte mich zwar mehr oder minder gezwungen, Ministrant zu werden, aber das war auch schon alles, was er für mich getan hatte.
Väterlicherseits hatte ich drei Onkel und eine Tante, die in Pöls wohnten und so gut wie keinen Kontakt zu uns pflegten. Auch die Großeltern aus Pöls sah ich nie, zu keinem Geburtstag, zu keinem Weihnachtsfest. Wir fuhren nicht hin, sie kamen nicht zu uns. Warum das so war, sagte man mir nicht. Mein Vater schwieg eisern. Der Einzige der Pölser, der uns ab und zu besuchen kam, war Onkel Gerhard, ein Musiker. Er war Trompeter und Kapellmeister der Musikkapelle von Pöls.
Mein Vater war Schmied in Weißkirchen, wo er meine Mutter kennenlernte. Deren Geschwister hießen Gernot und Gudrun. Die Großeltern wohnten in Judenburg. Zu diesen Verwandten bestand intensiver Kontakt. Tante Gudrun wohnte mit ihrem Mann Hannes, einem Prokuristen der VOEST Alpine, und den Kindern Ute und Hannes in Rothenturm bei Judenburg. Meine Mutter telefonierte mit ihrer Mutter fast jeden Tag, und die Oma kam oft zu uns auf Besuch.
Onkel Gernot war Fußballspieler, begann beim WSV Judenburg und spielte mit achtzehn schon bei Sturm Graz. Anfang der Achtzigerjahre bildete er mit Bozo Bakota den gefürchteten Angriff der steirischen Mannschaft. In der österreichischen Nationalmannschaft spielte er bei der WM 1982 in Spanien. Diese erreichte den achten Platz.
Seine Lieblingsspeise waren die Kärntner Kasnudeln meiner Mama, die sie ihm zubereitete, wenn er von Graz auf Besuch kam. Er war ein sympathischer Kerl ohne Allüren, der erste Sturm-Spieler, der mehr als hundert Tore in der Bundesliga erzielte. Die schulterlangen blonden Haare und das heraushängende Trikot waren seine Markenzeichen. Mit fünfundzwanzig wurde er österreichischer Torschützenkönig, mit zweiunddreißig beendete er seine Karriere und führte danach drei Fachgeschäfte für Autozubehör. Seine Freundin Rosmarie hatte für ihn den Präsidenten des Vereins Sturm Graz verlassen. Sie wohnten in einer großen Villa mit Swimmingpool. Mit meinen Großeltern fuhr ich hin und wieder in Gernots Ferienhaus ins burgenländische Jennersdorf. Er verstarb mit einundfünfzig an Krebs. Kurz nach seinem Tod kam noch ein uneheliches Kind zur Welt, aber nicht von Rosmarie.
Meine Familie war mir immer sehr wichtig gewesen, doch nach dem Tod der Eltern … zerfiel sie für mich!
© Heinz Rappitsch 2022-06-12