Die Mongolei, das Kloster und ich

Marlene L. Frei

by Marlene L. Frei

Story

Es war früh am Morgen, als wir den Hügel zum Kloster hochstiegen. Unser Weg war von schroffen Felsen und kahlen Bäumen gesäumt. Ich fröstelte. In der Mongolei war es immer noch Winter. Obwohl wir eine Stunde zu früh kamen und wir kein Geld für den Eintritt dabei hatten, öffnete uns ein älterer netter Mann das Tor und ließ uns in den Klosterkomplex eintreten. Ein gepflasterter Weg zeigte, wie wir zum Meditationstempel gelangten.

Langsam stiegen wir den Weg hoch, begleitet nur von der Ruhe, die am frühen Morgen hier herrschte. Wir gelangten zu einem kleinen Gebetstempel mit einer großen Gebetsmühle darin und als ich mich umdrehte, konnte ich mich an der wunderschönen Landschaft kaum sattsehen. Wir waren mitten in einer Bergwelt im Nirgendwo, in einem Nationalpark in der Mongolei. Ich schoss ein Foto nach dem anderen und bemerkte gar nicht, wie meine Freunde weitergingen. Ich drehte mich um und war plötzlich alleine. Ich beschleunigte meine Schritte, um sie wieder einzuholen, denn ein nur allzu bekanntes Gefühl kam schlagartig zurück: das Gefühl, zurückzuliegen, an letzter Stelle zu sein. Es begleitete mich beinahe schon mein ganzes Leben, das Gefühl den anderen hinterherzuhinken, als würde ich einen Marathon laufen und ich hätte das breite Feld im Blick, aber egal wie schnell ich rannte, ich würde die anderen nie einholen. Sie wären mir immer voraus. Dann blieb ich mitten auf dem Weg stehen, denn eine unglaubliche Erkenntnis überkam mich. Ich blickte mich um, und mir wurde bewusst, wo ich mich befand: in einer unglaublichen wunderschönen Landschaft mitten in der Mongolei! Ich war auf der Reise meines Lebens, warum wollte ich mich da beeilen? Und dort alleine auf einem Pfad auf dem Weg zum Tempel, fällte ich eine Entscheidung: Ich wollte nicht mehr dem breiten Feld folgen, ich bog ab und zum ersten Mal seit langer Zeit, konnte ich meinen eigenen Weg sehr deutlich vor mir sehen.

Die Sonne, die gerade hinter den Bergen hervorkam, wärmte mein lächelndes Gesicht und alles was ich in diesem Augenblick empfand, war Erleichterung. Ich fühlte mich beschwingt und frei. Ich genoss den weiteren Weg zum Tempel und ließ mir Zeit. Ich war alleine und es herrschte eine friedliche Stille, die lediglich vom Wind unterbrochen wurde, der durch das trockene Gras fuhr und mir Geheimnisse zuflüsterte. Als ich den Tempel schließlich erreichte, drehte ich noch die Gebetsmühlen, die sich seitlich am Gebäude befanden, und bat um Stärke. Erst später wurde mir bewusst, dass ich diese Stärke auf dem Weg bereits gefunden hatte. Natürlich würde ich sie auf meinem weiteren Lebensweg immer mal wieder verlieren, aber durch dieses Erlebnis würde ich sie nun leichter wiederfinden. Als wir gemeinsam zurückgingen und ich einen letzten Blick auf das Kloster warf, stellte ich fest, dass ich keine Angst mehr vor der Stille hatte, sie ist nämlich heilend, und das Bezauberndste ist, wenn der Wind auf deine Fragen und Bitten antwortet.

© Marlene L. Frei 2021-08-09

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