Die Schere geht zu weit

Alina Steffen

by Alina Steffen

Story

Ich war gerade dabei herzhaft in mein Nutellabrötchen zu beißen, als es an der Haustür klingelte. Meine Patentante, mit roten Augen und einem Paket Taschentücher in der Hand. Sie setzte sich zu meiner Mutter und mir an den Esstisch.

“Ich kann einfach nicht mehr. Ich bin am Ende.”, eine einzelne Träne kullerte ihr über die Wange. „Aber er will nicht ins Heim, egal wie oft wir darüber reden. Maus, Maus, sagt er, ich will zu Hause sein, bei dir.“ Meine Mutter nahm sie tröstend in den Arm, während ich die Brötchenkrümmel auf meinem Teller zählte. Was sollte man dazu auch sagen? Der Anblick der Tränen überforderte mich, ich wusste nicht, was ich tun sollte, fühlte mich wie eine nutzlose Statistin, in dieser unkontrollierbaren Serie.

“Ich geh nach oben, ich muss noch lernen.”, ohne eine Antwort abzuwarten, sprang ich auf und stürmte die Treppe hoch in mein Zimmer. Das Nutellabrötchen blieb vergessen auf dem Tisch liegen. Es war keine Lüge, ich musste noch immer für meinen Test über die Beststandteile der pflanzlichen Zellen lernen, doch konnte ich mich so konzentrieren? Egal, ich musste es versuchen. Ich musste funktionieren, unabhängig von den Emotionen in mir.

Die aufgekratzte Stelle von vor ein paar Tagen pulsierte an meinem linken Unterarm. Bisher hatte sie noch keiner bemerkt. Vorsichtig fuhren meine Fingerspitzen über die Kruste. Ich zuckte zurück, als ein Brennen durch meinen Arm lief. Ein Brennen, dass meinen überforderten Kopf wieder etwas klarer machte. Ich fühlte Schmerz, anstatt Verzweiflung. Einen Schmerz, den ich kontrollieren konnte, je nachdem wie sehr ich auf die Wunde drückte.

Mein Blick fiel auf die Schere im Stiftehalter. Eine ganze normale Bastelschere, erhältlich in jedem Drogeriemarkt. Ich griff nach ihr, öffnete sie und hielt das kühle Metall an eine unverletzte Stelle an meinem Arm. Sollte ich? Meine Hand zitterte. Das konnte ich doch nicht ernsthaft in Betracht ziehen. Ich packte die Schere schnell wieder zurück an ihren Platz und drehte mich von mir weg. Hatte ich gerade wirklich überlegt, mir weh zu tun? Hätte ich es durchgezogen? Nein, oder?

Immer wieder zog die Schere meine Aufmerksamkeit an. Ich versuchte mich so gut es geht auf die Lernmaterialien vor mir zu konzentrieren. Aufbau der Mitochondrien, Plasmamembran, Liposom, die Wörter verschwammen vor meinen Augen. Konzentrier dich, Mia. Du hast die Kontrolle, jetzt verliere sie nicht. Der Test ist Morgen, da kann ich mir keine Fehler leisten.

Unter mir putze sich jemand die Nase. Weinte meine Patentante noch immer? Kam mein Patenonkel jetzt ins Heim? Wie oft würde ich ihn dann noch sehen können? Egal, das ist jetzt unwichtig. Konzentriere dich, verdammt. Reiß dich zusammen. Funktionier einfach. Meine Finger streiften schon wieder über die verkrustete Stelle. Ich drückte. Der Schmerz brachte meinen Fokus zurück und die Buchstaben wurden wieder scharf. Ich konnte endlich lernen.

© Alina Steffen 2021-04-15

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