Die unsichtbare Katze zwischen uns

Natalie Meyer

by Natalie Meyer

Story

Sie aßen zu Mittag. Sie hatte mal wieder alles anbrennen lassen. Aber das war er nach all den Jahren bereits gewohnt, was den Geschmack des Essens trotzdem nicht verbesserte. Mürrisch schob er sich eine Gabel mit angebrannten Gemüse in den Mund. Er sah unter sich, denn sie wollte er nicht anblicken, denn er konnte nicht ertragen, was aus ihr geworden war. Wo einst Schönheit, Klugheit und Geschicklichkeit ihn beeindruckt hatten, sah er jetzt nur noch Fettleibigkeit, Faulheit und Unachtsamkeit.Auch sie blickte nicht von ihrem Teller auf. Sie wusste, dass ihr das Essen mal wieder angebrannt war.Sie wusste, dass sie sich nichts mehr zu sagen hatten außer gegenseitigen Beleidigungen…

Plötzlich durchbrach er die Stille. “ Heute Morgen war da noch mehr Pudding in der Schüssel”, brachte er bissig und mit einen Blick auf den Nachtisch hervor. Früher hatte sie ihm ein Schüsselchen mehr gegeben und dafür auf ihr eigenes verzichtet. “Du spinnst doch”, war ihre Antwort. “Nun ja, die Katze wird dran gewesen sein”. Dann aßen sie schweigend weiter.

Nach einem ruhigen Fernsehnachmittag, an dem sie sich beide in zwei verschiedenen Räume begeben hatten und unwissend doch das gleiche Programm sahen, kamen sie am Abend am Esstisch wieder zusammen. “Wo ist die Fleischwurst von gestern Abend?”, murrte er, ohne sie eines Blickes zu wĂĽrdigen. “Ich weiĂź es nicht”, brachte sie beinahe tonlos hervor. “Mh, die Katze wird sie gefressen haben.” “Welche Katze meinst du denn?”, verwundert sah sie direkt in sein faltiges, altes Gesicht. Er antwortete nicht und blickte grimmig auf sein unbelegtes Brot.

Als sie später am Abend ins Bett gehen wollte, fand sie zwischen den Matratzen ihres Ehebettes eine Trennwand aus Holz vor. “Nun”, sagte sie zu sich selbst, die Augen erfüllt mit Tränen, “Das wird wohl die Katze vollbracht haben”.

© Natalie Meyer 2022-08-31

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