Die verschwundene Burg

Walter Weinberg

by Walter Weinberg

Story

Der Weg zur Schule in das Dorf war nicht weit, nur einen Kilometer von zu Hause. Die Mutter verließ sich ganz auf Walters ältere Schwester Sabine, ihn wohlbehalten über die gefährliche Bezirksstraße zu führen. Sabine ging diesen Weg bereit ein ganzes Jahr lang und so wusste die Mutter ihre Kinder in Sicherheit. Die beiden saßen sogar in derselben Schulklasse, da die erste und die zweite Klasse gemeinsam unterrichtet wurden. Walter fand es aufregend, endlich lesen und schreiben zu lernen und war euphorisch bei der Sache. Er freute sich besonders, bald die aufregenden alten Märchen- und Sagenbücher lesen zu können, die in seinem uralten Elternhaus von den Vorfahren seiner Familie erhalten blieben. Walters Mutter nannte ihn ohnehin schon länger “Märchenprinz”! Er genoss sehr, wenn ihm seine Mutter vor dem Schlafengehen ein spannendes Märchen vorlas.

In der Schule war er oft vom Unterricht gelangweilt und seine Gedanken schweiften ab. Walter verlor sich dann ganz in seiner Fantasie und träumte unter anderem von feuerspeienden Drachen und geheimnisvollen Zauberern in dunklen Wäldern. Am Elternsprechtag berichtete Walters Lehrerin seiner Mutter, er wäre ein richtiger Träumer! Er sei gar nicht wirklich anwesend im Unterricht. Aber trotzdem würde er den Unterrichtsstoff bestens verstehen, was seine Noten auch bezeugten. Deswegen wurden Walters Fantasiereisen in der Schule während des Unterrichts weiterhin geduldet!

Am Samstag besuchte Walter seinen neuen Schulfreund Pepi zu Hause. Pepi erzählte Walter, dass der Wald in der Nähe seines elterlichen Bauernhauses „Herrenholz“ genannt wird. Wenn dieser Wald das Holz von Herren genannt wurde, wollte Walter genauer wissen, von welchen Herren war denn dieser Besitz? Pepi berichtete, dass es dort früher sogar eine Burg gegeben hätte. Immer wenn Walter nur das Wort „Burg“ hörte, ging seine Fantasie und Neugier mit ihm durch! Walter war plötzlich dermaßen aufgeregt, dass er mit Pepi sofortzu dieser Burg ins Herrenholz aufbrechen wollte! Pepis Mutter erlaubte es sogar und schon waren die beiden auf dem Weg ins Herrenholz.

Leider fanden die Jungs dort weder etwas, was auf eine Burg hinweisen könnte, geschweige denn irgendwelche Gebäudereste oder größere Steine! Nur einen sehr steilen Abhang gab es dort im Wald, auf den die beiden keinesfalls hinunter gelangen konnten. Die Buben gingen einen großen Bogen um das steile Gelände, um nach unten zu kommen. Aber auch dort unten gab es rein gar nichts zu entdecken! Walter hätte sich zumindest irgendwelche Fundamente erwartet, da er doch in seiner Fantasie schon wieder Türme und Zinnen erspäht hatte! Pepi meinte, es wurden früher hier im Wald tatsächlich Münzen und Steine gefunden, aber die Leute hätten alles mitgenommen und nichts übrig gelassen. Walter war maßlos enttäuscht von seinem missglückten Abenteuer mit Pepi und marschierte traurig in der Dunkelheit nach Hause.

© Walter Weinberg 2022-11-18

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