Als Nell sich dem goldgerahmten Spiegel zuwendet, erkennt sie sich selbst darin kaum wieder. Mit einem Schlag fühlt sie sich in der Zeit zurückversetzt und glaubt, es handle sich um einen Zauberspiegel. Doch sie muss sich eingestehen, dass es kein Zauber war, der sie so verändert hat, sondern einfach die Zeit. Unbemerkt ist sie zu einer Frau in der Blüte ihrer Jugend herangereift, zu einer Frau, die erhobenen Hauptes in den Spiegel blicken kann, weil sie mit sich selbst im Reinen ist.
Kurz huscht ein amüsiertes Lächeln über ihre Lippen. Sie hatte lange gebraucht, um ihren inneren Kompass zu entdecken und herauszufinden, wer sie eigentlich sein will. Aber wenigstens auf die Frage, wo ihr Platz im Leben ist, hat ihr Herz nun endlich eine Antwort gefunden. Bei IHM. Ihr Lächeln wird breiter. Bei dem Gedanken an ihn erfüllt sie stets eine wohlige Wärme, und eine ganze Horde Schmetterlinge flattert wie wild in ihrem Bauch herum. Könnte das womöglich ‚Liebe‘ sein? Vehement verbietet sie sich, dieses Wort auch nur zu denken. Es wäre sonst real und wenn er nicht so fühlt…? Nell weigert sich, diesem Gedanken Raum zu geben.
Ein ungeduldiges Klopfen an der Tür katapultiert sie unsanft wieder ins Hier und Jetzt zurück. „Nell, nun komm schon! Es geht gleich los!“ Nell schmunzelt. Der aufgeregt drängende Unterton ist typisch für das bezaubernde Mädchen, das sie seit der ersten Begegnung ins Herz geschlossen hat. Sie erinnert Nell an ihre eigene kleine Schwester. „Ich komme!“, ruft sie zurück und strafft die Schultern. Nell hasst offizielle Anlässe und das ganze Gegaffe, das damit stets verbunden ist. Aber sich hier zu verstecken ist leider keine Option. Sie hatte zugestimmt, mit ihm den Tanz in den Mai zu eröffnen und das erste Band um den Baum zu schlingen – zu ihrem Graus auch noch tanzend! – und Versprechen muss man halten. Gibt sonst ziemlich mieses Karma.ER ist ihr einziger Lichtblick. Nell stellt sich vor, wie sich ihre Finger gemeinsam um das bunte Band verschränken und er seinen Arm um ihre Taille schiebt. An seiner Seite fühlt sie sich sicher. Immer. Er ist ihr Ritter, auch wenn er ihr ohne Rüstung in bequemen Alltagskleidern immer noch am besten gefällt. Gerade sieht sie sich mit ihm lachend zu einer heiteren Melodie über den Rasen stolpern, die Augen untrennbar in denen des anderen versunken, als es erneut gegen die Tür hämmert.
„Ja! Ist ja schon gut!“, sie lacht nervös und wirft einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Nell verspürt überhaupt keine Lust, sich schon wieder zum Gespött der Leute zu machen, weil sie mit Ruß oder Spinnweben beschmiert ist. Erleichtert stellt sie fest, dass alles in Ordnung ist, zwinkert sich selbst zu und geht dann zur Tür, um sich allen Herausforderungen zu stellen, die dort unten auf sie warten mögen.
© Isa_Bella_King 2023-04-19