Die Würde des Menschen Teil 3

Alicia Harms

by Alicia Harms

Story

Nein ich glaube nicht daran, nicht an diese Lüge, diese ist ja sogar noch eine der Offensichtlichsten, zumindest für mich. Ein weiteres genervtes Stöhnen zieht sich quälend durch die Reihen, doch auch unser Professor hat eher weniger Lust auf eine Diskussion und ignoriert einfach meine Stimme, als sei ich unsichtbar. „Sehr schön, ein einstimmiges Ja“, sagt er. Von wegen, ich will protestieren, doch das leise Kichern, was sich nun zusätzlich zu dem genervten Stöhnen im Hörsaal ausbreitet, verunsichert mich, ich schweige, wie immer. Nie kann ich mich überwinden etwas zu sagen, wenn ich ungerecht behandelt werde, doch für andere stehe ich ein, stehe ich auf, bin ich laut. Unser Professor hat sich mittlerweile dem Beamer zugewandt, und zeigt uns einen Auszug aus dem Gesetzbuch, genau dort wo der Satz verfasst ist, die mit unter größter Lüge der Politik.

Grundgesetz Artikel 1
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen und zu achten ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“

Dafür das es die erste Regel im Grundgesetz ist, ist es aber eine ziemlich große Lüge. Eine der meist geglaubten noch dazu. Den viele, alle fallen auf das funktionierende System rein. Ich nicht. Ich bin wütend, wütend über die Ungerechtigkeiten, wütend über das, was unser Professor uns dort versucht, einzureden, grade jetzt. Er steht da vorne so ruhig und gelassen, redet über Immanuel Kant, wie das Gesetz entstand. Doch worüber er nicht redet, ist das, was alle wissen sollten. Die Fehler, die Situationen, in denen es nicht zutrifft, die Wege es zu umgehen, die Ungerechtigkeit. Ich atme tief durch, versuche mich zu beruhigen, nicht so aufzuregen, doch es bringt nichts, ich koche bereits innerlich. „Die Würde des Menschen ist unantastbar, oder?“ unterbreche ich unseren Politikprofessor ein allererstes Mal in meinem Leben, meine Stimme zittert vor Wut, mir hört man den Ärger nur so an. „Die Würde des Menschen ist unantastbar, nicht wahr?“ wiederhole ich mich ein weiteres Mal. Ich bin überrascht von mir selbst, dass ich etwas sage, doch irgendwie auch nicht ich stehe für andere ein. Ich hatte ja gedacht ein Professor, ein Lehrer solle Politik und Meinungsfreiheit unterrichten, über alles aufklären, egal wie problematisch es auch sein mag, aber ich habe mich geirrt, in meinem Professor, in der Uni, in der Menschheit, wie schon so oft. Stille, ist die Antwort, alle Augen sind auf mich gerichtet, doch keiner sagt ein Wort. Eine starke Stimme unterbricht die Stille, die binnen weniger Sekunden sonst wie eine Bombe hochgegangen wäre. “Nicht immer”, sagt dies mir unbekannte und doch so vertraute Männerstimme. Ich sehe einen jungen Mann, in der hintersten Reihe aufstehen, ich blicke zu ihm, nicke, ich fühle mich gehört, verstanden. Unsere Blicke treffen sich und in mir explodiert dieses unbeschreibliche Gefühl, als seien wir seelisch verbunden, als könne er fühlen, was ich fühle, sehen, was ich sehe, hören, was ich höre, ja gar denken, was ich denke. Ein Räuspern unseres Professors, doch er wird unterbrochen noch bevor er etwas sagen könne. „Die Würde des Menschen sollte unantastbar sein, doch das ist sie nicht, nicht immer, nicht wenn sie es sollte“, sagt der Unbekannte.

© Alicia Harms 2024-09-15

Genres
Novels & Stories