by Mary Modl
⊠ist dort, wo Europa beginnt. Es kommt stets auf die Perspektive an.
1989, Adventzeit. Tage, die noch sehr prÀsent in meinem Erinnerungsspeicher verankert sind.
Ich war als junge Mutter mit zwei Kleinkindern auf unserem Adventmarkt unterwegs, der in jenem Jahr von ungewöhnlich vielen Menschen frequentiert war. Viele von ihnen sprachen nicht Deutsch. Es war Tschechisch oder auch Slowakisch zu vernehmen. Die Besucher, gröĂtenteils nicht mehr als 15 bis 20 Kilometer von meiner Heimatstadt Zistersdorf entfernt herkommend ,von irgendwo dort hinter March und Thaya, hatten eine beinahe 20jĂ€hrige Anreise hinter sich, um diese unglaubliche Distanz zu ĂŒberwinden.
Gute 25 Jahre meines Lebens lang hatte Europa elf Kilometer weit weg von meinem Elternhaus in östlicher Richtung geendet. Wenn der Onkel Karli, der Bruder meines Vaters, in Hohenau an der March besucht wurde, gabâs immer viel GesprĂ€chsstoff. Doch ein Thema, das immer wieder das gleiche mit unterschiedlichen Inhalten war, dominierte vor allem meine Aufmerksamkeit. Als FischerhĂŒttenbesitzer an der March wusste er einfach ĂŒber jeden einzelnen Vorfall des unerlaubten GrenzĂŒberschreitens Bescheid. Ăber jeden Versuch. Egal ob gelungen oder missglĂŒckt. Ăber die Geretteten, die Gescheiterten, die Getöteten. Die meist von Grenzposten Erschossenen.
Einmal sagte ich in eine seiner berichtenden Geschichten hinein âDas sind Mörderâ. Da blickte Onkel Karli mich ungewohnt streng an und meinte, die könnten nicht anders. Das sei deren Job. Ab diesem Zeitpunkt war ich sehr unglĂŒcklich. Genau in diesem Moment manifestierte sich in meinem kindlichen GemĂŒt der Gedanke, aufgrund meiner Wurzeln in Brno und Malacky von einem Volk von Killern abzustammen. Sowohl die Tschechei als auch die Slowakei mögen mir das heute verzeihen.
Ab und zu fuhr mein Vater mit mir zur March. Zur PontonbrĂŒcke. Alleine dieses schwimmende Ding, das mir unheimlich war, dem es all die Jahr nicht gelungen war, eine BrĂŒcke zwischen hier und dort zu schlagen, wĂ€re schon etwas Besonderes gewesen. Doch meine Blicke galten den WachtĂŒrmen. Voll Faszination und Neugierde erhoffte ich stets, einen der Killer dort irgendwo zu erblicken. Eine der Gestalten, das Wasser der March nach Bewegungen absuchend, den Finger stets gespannt am Abzug haltend. Und einmal sah ich wirklich einen. Am gegenĂŒberliegenden Ufer.
Retrospektiv betrachtend war das damals viel Uniform mit Wenigem an Inhalt genau dort, wo mein Schutzwall, mein sicherer Boden, mein Europa aufhörte. Die March war jene HĂŒrde, die meine Wurzeln nicht durchdringen konnten; weder in die eine noch in die andere Richtung.
Doch 1989 auf diesem Adventmarkt hatte ich erstmals einen Anflug eines GefĂŒhls von Zu- und Miteinander. Dieses hat sich bis heute wunderbar verstĂ€rkt und ich habe an IdentitĂ€t dazugewonnen. Das Wasser ĂŒberwunden, genauso wie auch Europa es ĂŒberwunden hat. Immer und immer wieder. Wer weiĂ, wie weit meine Wurzeln noch reichen.
© Mary Modl 2019-04-27