Draußen regnet es

Waltraud Lehofer

by Waltraud Lehofer

Story

Regentropfen hängen aufgefädelt wie Glasperlen vom Geländer draußen am Balkon. Seit Tagen regnet es. Gottseidank! Sie sitzt fertig angezogen auf ihrer Couch, ich daneben. Wir warten, das heißt ich warte, meine Mutter weiß nicht mehr, worauf. Meine Schwägerin macht sich in der Küche zu schaffen, da flüstert Mama mir zu: „Wenn wir da hineingehen und sie meint das Nebenzimmer, die Tür zusperren und das Fenster aufmachen, können wir die Polizei rufen.“ Das brauchen wir nicht, sag’ ich ganz ruhig, die in der Küche kenn’ ich, das ist deine Schwiegertochter, vor der brauchen wir uns nicht zu fürchten. Ach so, sagt Mama und wenig später: „was erlauben Sie sich eigentlich, das gehört mir“ und verteidigt entschlossen ihre paar Habseligkeiten vom Tisch. Du weißt, dass der Tag kommen wird, an dem alles in die Ewigkeit stürzt, aber erst, wenn er nahe ist, fühlst du, was Verlust bedeutet. Vor dem Sterben fürchtet sich Mama nicht, nur: „es ist schon schade, wenn ich nicht mehr da bin“. Tief eingewurzelt und hingegeben an das Sein ohne Wenn und Aber, Größe und Frucht eines langen Lebens. Du schaust in Mutteraugen, aber sie sind bereits seltsam matt und weit weg von dir. Du findest das Vertraute in diesem Blick nicht mehr. Dann sind sie da, stellen den Tragesessel ab: “Mama, ich komme mit dir”, sie schaut mich verschreckt an, die Sanitäter packen sie, die kaum noch aufstehen noch gehen kann, behutsam auf den Sessel und tagen sie die Stiegen hinunter, im Rettungsauto gibt sie keinen Ton von sich. Ich dreh’ mich immer wieder zu ihr um, damit sie mich sehen kann. Ich bin da, sag ich – keine Antwort. Palliativstation, ich bin nach nur einer Woche Begleitung zu Hause erledigt, Bruder und Schwägerin nach drei. Sie lässt stumm alles mit sich geschehen, liegt dann reglos mit fahlem Gesicht und geschlossenen Augen im Bett, Mama? Wissen Sie, sagt sie wenig später zur Ärztin, ich arbeite ja viel im Garten. Aber jetzt regnet es, sagt die Ärztin, da kann man sowieso nichts im Garten machen. Ja, sagt Mama ergeben, jetzt geht es nicht und ich wünsche mir plötzlich, es möge ewig regnen. Dabei waren wir uns nicht immer so nahe. Vielleicht haben auch Armut, Not und Krieg meine Elterngeneration zu sehr gezeichnet. Vielleicht ließ sie sich auch zu unhinterfragt auf das Rollenbild der untergebenen Frau festnageln und ich habe nur gegen die Opferrolle rebelliert. Mein Vater hat spät, aber doch noch begriffen. „Jetzt weiß ich, was Leben bedeutet, ich bin von Menschen umgeben, die mich lieben“, ist zu seinem Vermächtnis geworden. Zur Witwe geworden, fand Mama wieder zu Fröhlichkeit und Lebensfreude, lachte gerne und tat, was ihr Spaß und Freude bereitete. Pflegte mit Liebe und Hingabe ihren Garten, wurde mit zunehmendem Alter liebenswürdiger, heiter und sanft, klagte und jammerte nicht, mischte sich nirgends ein, war tief zufrieden. Mama, machst du dich auf die Reise? Gott, bitte lass es doch im Garten auf der anderen Seite des Flusses noch ein bisschen regnen.

© Waltraud Lehofer 2023-04-16

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