Abgesehen von den touristischen Attraktionen kannte ich mich eigentlich in Wien überhaupt nicht aus. 1971 war ich mit der Familie in die Nähe von Wiener Neustadt gezogen und wollte im Wintersemester an der Wiener Uni studieren. Wie ich eingehend im Stadtplan die günstigsten Verbindungen zwischen dem Südbahnhof und der Uni suchte, fiel mir auf, dass im Plan eine riesige Baustelle eingezeichnet war.
„U-Bahn Baustelle Karlsplatz“ hieß es da, wo sich anscheinend Individual- und Öffentlicher Verkehr in vielfältiger Weise zu verknoten schienen. Wien hatte damals noch keine U-Bahn. Klar, dass mit der Zunahme des Straßenverkehrs das Verkehrsnetz mit Sicherheit überfordert gewesen wäre. Nun also befand sich da auf Jahre hinaus eine Mammut-Baustelle an diesem verkehrstechnisch besonders kritischen Ort, die sogar im Stadtplan eingezeichnet war. Anfangs habe ich den Platz gemieden, zumal ich mit meiner Streckenkarte am Weg zur Uni ohnehin nur den D-Wagen nehmen konnte. Auf historischen Fotos aber sah ich, welch ein beeindruckendes Ensemble der Karlsplatz einst gewesen sein musste: Eine riesige Parkanlage mit dem Wien-Fluss in der Mitte über den die Elisabeth Brücke führte. All das umsäumt von repräsentativen Gebäuden wie dem Künstlerhaus, dem Musikverein, der Technischen Hochschule und dergleichen sowie der barocken Karlskirche als krönendem Abschluss.
Auf dieser Baustelle jedoch war herzlich wenig von der einstigen Pracht wiederzuerkennen und sie blieb auch endgültig verschwunden. Auch später, als ich in der Schwarzspanierstraße ein Zimmer genommen hatte, mied ich den Platz. Wenn ich jedoch zu den Wochenenden mit der Bahn zu den Eltern fuhr, stieg ich am Weg zum Südbahnhof beim Landesgericht in eine Straßenbahn der 2er Linie. Diese Verbindung verläuft in einem großen Bogen parallel zur Ringstraße. Da in Wien alle Straßenbahnlinien, die zumindest teilweise ringförmig um die Innere Stadt führen, Buchstaben als Liniensignal haben, erhielten jene auf dieser Parallelstrecke zur Unterscheidung einen tiefgestellten Zweier-Zusatz, hießen also E2, G2 oder H2.
Zu meiner Zeit war die 2er Linie zwischen dem Landesgericht und der despektierlich als „Krauthappel“ bezeichneten Sezession bereits unterirdisch geführt. Wenn der Straßenbahn-Zug dann bei der Sezession ans Tageslicht kam, hatte ich immer den Eindruck, dass jetzt eigentlich niemand so recht wusste, wie die Straßenbahn in dem nun folgenden Durcheinander die richtige Richtung einschlagen werde. Es hat aber immer funktioniert, doch denke ich, dass hier und da auch ein gewisses Quantum Glück oder göttliche Fügung dabei eine Rolle gespielt haben dürfte.
Irgendwann fiel mir auf, dass bei der automatischen Haltestellendurchsage der 2er Linie die Stimme gar nicht „Karlsplatz“ sondern eigentlich „Chaosplatz“ sagte. Mehr als nur lustig, wobei im Österreichischen in der umgangssprachlichen Praxis hier ohnehin kein Unterschied besteht.
© Klaus Schedler 2020-07-14