Durch die Stille

Bernhard Prunner

by Bernhard Prunner

Story

Katharina zögerte einen endlos langen Moment, bevor sie den Schlüssel umdrehte und die Tür öffnete. Sie hatte den ganzen Nachmittag und Abend bei ihrer Tochter verbracht, nur um diesem Augenblick zu entrinnen. Das Schloss klackte vertraut und sie ging ins Haus. Dort wartete die Stille. Es fühlte sich an als würde sie durch eine spürbare Wand schreiten und von ihr verschlungen werden.

In den letzten 35 Jahren hatte jemand hinter dieser Tür gewartet, geräumt, gelacht, geweint, geschrien und gegrübelt. Doch nun war da niemand mehr. Nur sie und die Stille. Diese alles durchdringende Stille. Sie ließ ihre Schlüssel auf den gewohnten Platz fallen. Das metallische Geräusch zerriss die Stummheit ihres Hauses für eine Millisekunde. Katharina ging in die Küche und erwartete ihren Mann zeitungslesend vorzufinden, doch sie bekam nur ein Trugbild, den Schatten einer Erinnerung, der ihr durch Mark und Bein fuhr.

Heute hatte sie keine Tränen mehr übrig. Die hatte sie vergossen als er ein letztes Mal ihre Hand gehalten hatte, während sie ihm das dünne, schweißnasse Haar aus der kalten Stirn gestrichen hatte. „Ich fürchte mich vor der Stille danach“, hatte er gesagt und sie hatte ihn so gut sie konnte durch diese Stille nach dem letzten Atemzug getragen. „Es ist gut. Du kannst gehen. Uns geht es gut”, hatte sie wie ein Mantra geflüstert. Das hatte es für sie beide leichter gemacht. So hatten sie sich ein letztes Mal aneinander festgehalten.

Der alte Parkettboden im Wohnzimmer knackte vertraut und für einen kurzen Moment dachte sie, dass er augenblicklich um die Ecke kommen würde. Aber da war nur das leere Echo. Sonst nichts. Die Stille war gar nicht so leise wie sie gedacht hatte, aber sie war umso grausamer. Jeder Quadratmillimeter war durchtränkt von Erinnerungen, sein Geruch allgegenwärtig und bittersüß. Ihr beider zu Hause musste jetzt irgendwie zu ihrem werden und sie ekelte sich vor dem Gedanken.„Du hattest recht. Die Stille danach ist das Schlimmste“, flüsterte sie in die Dunkelheit, bevor sie das Licht im Wohnzimmer anmachte.

Da bemerkte Katharina eine kleine Box aus Holz auf ihrem Esstisch. Neugierig ging sie darauf zu und sah einen kleinen Zettel daneben liegen. „Er wollte, dass ich es dir gebe. Es tut mir so leid“, war in der Handschrift ihrer Nachbarin darauf zu lesen.

Mit zittrigen Händen öffnete Katharina die Box und blickte verdutzt hinein. Zuerst konnte sie nicht glauben, was sie da sah. Sie holte tief Luft und wusste nicht so recht, wie sie reagieren sollte. Aber dann lachte sie. Sie lachte lauthals die Trauer, den Schmerz und die Einsamkeit in die Box hinein, während sie ihren Kopf erschöpft gegen den geöffneten Deckel drückte. Dicke Tränen flossen ihre Wangen hinab und ihr Zwerchfell begann befreiend zu schmerzen.

Kurz vor Morgengrauen fielen Katharinas Augen zu und es kehrte Ruhe in das Haus ein. Eines war sicher: Sie hatten sich nicht nur gegenseitig durch das gemeinsame Leben getragen, sondern auch durch die Stille danach.

© Bernhard Prunner 2021-04-29

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