138 Minuten. Jeden Tag. 138 Minuten, an denen wir uns die perfekten Leben der anderen auf Facebook, Instagram & Co. hineinziehen, um am Ende zur ernüchternden Erkenntnis zu gelangen: Ich bin ein Looser. Alle anderen fahren bessere Autos, machen schönere Urlaube, haben bessere Haut, verdienen mehr Geld, machen steilere Karrieren, haben erfolgreichere Unternehmen, sind schlanker, viel klüger und leben ihr leben nach einem perfekten Plan. Unlängst spülte es Mario in meinen Facebook-Newsfeed. Mario ist schon ein toller Bursche. Nicht nur wegen seines pinken Anzugs. Er hat sein Einkommen innerhalb eines Monats verzehnfacht, erzählt er mir in einem Video, das er in seiner Küche aufnimmt. Dass es dort aussieht wie in einer Studenten-WG soll mal nicht weiter irritieren. Linda posiert in perfekter Strandfigur vor einer Yacht und erklärt mir, wie sie es mit wenig Arbeit und in kürzester Zeit zur Millionärin brachte. Ob die Yacht ihre eigene ist, lässt sie mal offen. Dr. Google verrät sie gehört einem arabischen Scheich.
Das Leben ist nicht das, was wir auf Facebook oder Instagram sehen. Sondern das, was passiert, wenn die Kamera aus ist. Ich lade dich ein zu einem Experiment: Wenn du nächstes Mal im Urlaub oder in der Stadt unterwegs bist, achte auf Menschen, die für Selfies oder Fotos posieren. Sieh zu, wie sie sich für die Kamera inszenieren und noch wichtiger: Achte darauf, wie ihr Gesichtsausdruck erschlafft, wenn das Foto im Kasten ist. Wenn sie wieder ganz sie selbst sind. Mit all den Zweifeln, Sorgen, Ängsten, aber auch Hoffnungen, Wünschen und Träumen – so wie wir alle. Die meisten Menschen zeigen in sozialen Netzwerken nicht das Leben, das sie führen, sondern jenes, das sie gerne führen möchten. Sie zeigen uns ihren Traum. Und wir verwechseln es mit der Realität. Wir glauben tatsächlich alles ginge einfach, schnell, jeder Idiot müsste es schaffen. Und fühlen uns schlecht. Meine Beobachtung ist: Wirklich erfolgreiche Menschen teilen mehr von ihren Zweifeln, ihren Niederlagen und ihren Schwächen, als von ihrem Ruhm, ihrem Reichtum und ihrer Berühmtheit.
Nur die wenigsten zeigen uns, was wirklich ist. So wie Lady Gaga, die in ihrer Oscar-Rede in Tränen ausbricht, wenn sie davon spricht, wie unendlich hart es ist, während alle an den Fernsehschirmen glauben würden, es sei so einfach. Wenn Cameron Diaz sagt: „Berühmt sein ist mein Job. Wenn ich zuhause bin, bin ich nicht berühmt. Ich bin dann nur ich selbst. Wenn du zulässt, dass dein Erfolg dich definiert, wirst du niemals glücklich sein“. Der Druck, den wir uns selbst auferlegen, entsteht, weil wir glauben, es anderen beweisen zu müssen. Anderen, die es vermeintlich schon geschafft haben. Wer es für andere tut, hat Zeitdruck. Wer es für sich selbst tut, hat ein ganzes Leben lang Zeit. Der erste – und vermutlich wichtigste – Schritt auf diesem Weg: Die tägliche Flut an Nachrichten, Postings und Eindrücken als das durchschauen, was es ist – der Bruchteil einer Realität.
© Philipp Maderthaner 2019-08-25