by Kurt Joseph
Es war ohrenbetäubend laut, als der erste Glockenschlag ertönte. Der Schlägel schwang, und ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, während ich ihn kurz beobachtete. Das Geläut flog aus den Turmfenstern über den Kirchenplatz, über das Dorf, flatterte mit den Vögeln über die Felder. Mein Blick wanderte prüfend nach unten auf den Kirchenplatz. Von oben wirkte die Gesellschaft seltsam, mit den schwarzen Gewändern, die ihnen der Wind um die Beine wehte – als würde er aus einer anderen Welt eine Nachricht flüstern.
Dann entdeckte ich den anderen mitten unter den Leuten, die langsam in die Kirche strömten. Er gab mir noch kein Handzeichen. Ich hatte noch Zeit.
Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus, während ich dem Schlägel zusah. Es war Vormittag, aber ich war Glockenbub – ich hatte frei. Das Klong war tief und voll, wenn er auf das Metall traf. Es waren fünf Glocken im Turm. Die große vor mir wurde nur zu besonderen Anlässen geläutet.
Wieder versicherte ich mich, während ich ein weiteres Mal am Seil zog, damit das Gellen nicht aufhörte, und blickte hinunter. Kein Zeichen.
Ich dachte an den Pfarrer, der sich gerade unter mir in der Kirche bereit machte, und mir verging das Grinsen. Meine Gedanken schwenkten ab – zum Religionsunterricht. Erst letzte Woche hatte er einen aus meiner Klasse so stark am Ohr gezogen, dass es eine Blutspur auf seinem Hals hinterlassen hatte. Von da krabbelten meine Gedanken zum Haselnussstock, den wir selbst mitbringen mussten – mit dem uns der Schuldirektor Dutzende Male auf die Finger schlug. Und zu dem spitzen Holzscheit in der Ecke des Klassenzimmers, auf das wir uns knien mussten, wenn wir nicht artig waren.
Ich zog wieder am Seil, damit der Schlägel weiterschwang. Meine Oberarme schmerzten. Aber das war schon in Ordnung.
Ich grübelte darüber nach, ob irgendjemand gern zur Schule ging. Ich kannte, glaube ich, keinen. Vielleicht einige der Mädchen aus der ersten Reihe?
Vielleicht sollte ich sie einmal danach fragen.
Dann dachte ich an den Vorgänger des jetzigen Pfarrers. Ich kannte ihn nicht – dafür war ich zu jung. Aber die Älteren erzählten immer wieder von ihm, davon, wie er seine Meinung zum Krieg kundgetan hatte – und danach nie wieder gesehen worden war. Sie meinten, er wäre ins KZ gekommen.
Wegen etwas, das er gesagt hatte? Ich war froh, mich nicht an den Krieg zu erinnern. Dass ich damals zu klein war, um viel davon mitzubekommen.
Unten winkte der andere. Die Gesellschaft war jetzt in der Kirche. Der Gottesdienst würde gleich beginnen. Ich nahm konzentriert die Zunge zwischen die Lippen, fing mit einer geschickten Bewegung den Schlägel mit einem anderen Seil ein und stoppte ihn. Dann band ich das Seil über den Balken, an dem die Glocke hing, und zurrte es fest. Jetzt war es still. Ein Vogel landete im Turmfenster, zwitscherte. Ich hörte ihn nicht. Das Wummern der Glocke hallte in meinen Ohren nach, als würde sie mir noch etwas zuflüstern.
© Kurt Joseph 2025-06-18