Bald werde ich 80 Jahre. Wenn man mich fragt an welche Geschichten aus meinem Leben ich mich erinnere, dann ist diese sicherlich darunter: Der Tag, an dem ich, wie mir schien, meinem toten Vater begegnete.
Vor etwa 30 Jahren fuhr ich mit einer kleinen Reisegruppe von Hamburg nach Budapest. Ungarn befand sich noch unter kommunistischer Herrschaft. Ein ungarischer Freund empfahl uns ein Restaurant in einem kleinen, alten Fachwerkhaus, umgeben von vielen Hochhäusern.
Der Eingang versprach uns Abenteuerliches. Doch es kam anders als gedacht. Die Bänke, auf denen wir Platz nahmen, waren hart, aber das Essen gut und die Bedienung freundlich. Irgendwann kam eine alte Frau aus der Küche, wischte sich den Schweiß von der Stirn, band die Schürze ab. In ihrem Arm trug sie einen überschaubaren Bund Rosen, die sie den Gästen anbot. Was danach geschah, weiß ich nicht mehr, nur das Eine:
In einer Ecke des Restaurants spielte eine Kapelle, drei oder vier Musiker. Doch mein Blick haftete an einem. Er spielte Klarinette. Auch mein Vater spielte Klarinette und Saxophon – in einem groĂźen Tanzorchester in Berlin. Viel wichtiger aber war: Mir schien, als sähe ich in diesem ungarischen Lokal meinen leibhaftigen Vater. Die Ă„hnlichkeit zwischen dem wenige Meter vor mir sitzenden Musiker und meinem in Polen kurz vor Kriegsende gefallenen Vaters war verblĂĽffend. Während des ganzen Abends sah ich nur ihn, nicht die anderen Musiker, nicht die anderen Gäste.
Nur kurz hatte ich meinen Vater erlebt. Als Junge hatte er mir nicht gefehlt. Ich wusste ja nicht, wie es ist, einen Vater zu haben. Und so wie mir ging es vielen anderen Kindern. Je älter ich jedoch wurde, desto bewusster wurde mir, was es bedeutet, ohne Vater aufgewachsen zu sein. Ich ließ kaum eine Dokumentation über den Krieg aus – in der seltsam anmutenden Hoffnung, ihn unter den marschierenden Soldaten seiner Truppe einmal zu Gesicht zu bekommen. Ich sah ihn nicht. Nur im März 1945 – kurz vor seinem Tod – sah ich einen kurzen russischen Film, der Kampfhandlungen in dem Gebiet zeigte, in dem er gefallen war. Lange Zeit galt er als vermisst.
Und nun sitze ich wieder – in Gedanken – in dem kleinen Restaurant in Budapest. Die Gäste unterhalten sich laut. Die Musik spielt dagegen leise. Und ich sehe und sehe, wie mir scheint, meinen „Vater“. Warm ist es mir ums Herz. Auch ein wenig wehmĂĽtig. Vor allem aber habe ich das GefĂĽhl, hier und jetzt etwas zu erleben, was ich nie wirklich hatte erleben dĂĽrfen. Ich versuche, einen Blick von ihm zu erhaschen. Doch er sieht mich nicht, weiĂź auch nicht, was in seinem aufmerksamsten Zuhörer geschieht. Ich bin inzwischen fast 80 Jahre alt, gelte als erfahrener Psychotherapeut, komme jedoch nicht auf die Idee, das zu deuten, was in dem kleinen Lokal inmitten der Hochhäuser mit mir geschieht. Ich weiĂź nur: Ich bin ĂĽberrascht, erstaunt, bemerke, dass mir das Wort fehlt, um zu beschreiben, was ich erfahre. Vielleicht: Der Abend in Budapest wurde fĂĽr mich zu einem Geschenk auf Zeit.
© Uwe Böschemeyer 2019-04-11