Ich bin drei, als ich den Knall höre, der mein Leben verändert. Angeblich hat man in dem Alter die ersten Erinnerungen. Ich spiele im Schlafzimmer meiner Eltern, als es einen Schlag tut, als bräche ein Dasein zusammen. Danach höre ich die Stimme meiner Mutter von nebenan. Sie macht Geräusche, aber ich erkenne keine Sätze. Ich finde sie auf dem Boden vor ihrem Schreibtisch. Sie ist mit dem Stuhl umgefallen. Bestimmt, weil sie gekippelt hat. Immer sagt sie, dass ich nicht kippeln soll, weil man sonst umfällt. Jetzt liegt sie selbst da. Aus ihrem Mund laufen ständig Wörter, aber sie sind formlos wie vergossenes Wasser.
“Gagaga Gagaga.” Meine Mutter hat sich in etwas Seltsames verwandelt. Sie sieht aus wie ein Käfer auf dem Rücken. Das Schnurtelefon wurde beim Sturz mit zu Boden gerissen. Ich weiß nicht, warum sie auf dem harten Stein liegen bleibt oder was ich tun soll, deshalb lege ich ein Kissen unter ihren Kopf und den Hörer wieder an ihr Ohr. Irgendwie höre ich aus dem Brei das Wort Oma heraus. Meine Oma wohnt oben, allein, weil Opa sich schon vor meiner Geburt totgearbeitet hat und Mama meiner Schwester und mir verbietet, ein Pferd in ihrem Schlafzimmer leben zu lassen.
“Die Mama schläft”, sage ich meiner Oma. “Dann lass sie weiterschlafen.” Also gehe ich wieder nach unten.
Danach ist Mama lange an Orten, die komisch heißen. Mein Papa nennt das Kur. Sie muss wieder Laufen und Sprechen lernen, weil sie laut Papa jetzt auf der linken Körperhälfte gelähmt ist. “Eure Mama hatte einen Schlaganfall.” Am schlimmsten finde ich, dass so was passieren kann, nur, weil man kippelt. Vor allem, weil sie mich ja noch davor gewarnt hat und davor, Grimassen zu machen, weil, wenn man genau in dem Moment erschrickt, in dem man die Grimasse macht, geht die nie wieder weg! Ich kann mir Kippeln und Grimassen schneiden nicht abgewöhnen, aber ich hab jetzt immer Angst dabei.
Weil mein Papa trotzdem immer zum Roten Kreuz muss, auch, wenn Mama nicht da ist, und weil meine Oma schon alt ist, kommt eine Frau, die auf uns aufpasst. Ich mag sie nicht, weil sie nie mir, sondern immer meiner Schwester glaubt, wenn wir was anstellen, weil die älter ist und besser lügen kann. Außerdem isst sie die Maultaschen, die meine Oma für uns runterbringt.
“Du hast mir das Leben gerettet.” Als meine Mama wieder sprechen kann, sagt sie diesen Satz zu mir. “Hättest du mir das Telefon nicht gegeben, wär ich gestorben, mein Schatz.” Ziemliches Glück, dass mein Papa immer zum Roten Kreuz muss. Als meine Mama vom Stuhl gefallen ist, hat sie gerade mit seiner Sektretärin telefoniert und er war auch da. Sie hat ihn gleich an den Hörer geholt, aber weil Mama nur “Gagaga” gesagt hat, dachte er, es wäre eine Betrunkene.
“Das ist Ihre Frau!” Als die Sekretärin ihn anschreit, kommt er schnell mit dem Krankenwagen, der Mama an diese komischen, weit entfernten Orte mit Bad im Namen bringt. Das war wichtig. Eigentlich hat die Sekretärin meiner Mutter das Leben gerettet und nicht ich. Aber das sag ich ihr nicht.
© Jane Steinbrecher 2022-04-27