by Alex_Schwarz
Mit quietschenden Bremsen fährt der Zug in den Bahnhof ein. Ich habe mich bereits in Stellung gebracht. Mit meinem Latte Macchiato und einer Brezel stehe ich am Rand des Bahnsteigs und warte auf die aussteigenden Gäste. Wie eine Flutwelle strömen die Menschen aus den noch nicht einmal ganz geöffneten Türen. Eine nie enden wollende Masse quetscht sich den Bahnsteig entlang bis zum Ausgang. Konzentriert lasse ich meinen Blick über die Menge gleiten. Doch noch nichts. So schnell, wie der Bahnsteig voll war, ist er auch schon wieder leer. Die letzten Fahrgäste verlassen die stehende Bahn. Hektisch schaue ich mich um. Vielleicht habe ich sie verpasst? Womöglich waren sie gar nicht in diesem Zug?
Aber bevor meine Sorge die ersten Falten auf meine Stirn wirft, sehe ich sie auch schon. Am mittleren Waggon verlässt ein junges Mädchen die Bahn. In ihrer linken Hand hält sie einen kleinen Koffer, an der rechten zieht sie eine Frau mit sich – vielleicht Ende dreißig. Als sie mich sieht, winkt mir die Frau in ihrem grünen, knielangen Kleid mit einem schicken Hut und einem breiten Lächeln zu. Das Mädchen dagegen bleibt reglos, fast unbeteiligt. Ihre Kleidung ist bunt, doch ihr Blick wirkt kühl.
„Hi, Sie müssen Herr Maier sein.“ „Ja, genau. Ich freue mich, dass Sie gut angekommen sind. Hattet ihr eine gute Fahrt?“ Ich schaue zu dem kleinen Mädchen. Diese steht Arm in Arm neben Frau Pütz und umklammert ihre Hand fest. Ihr Gesicht bleibt reglos wie Stein. „Ja, hatten wir, danke. Sollen wir aufbrechen? Dann kann sich Amina schon mal ihr neues Zuhause ansehen.“
Eine Stunde später fahren wir auf unsere Auffahrt. Klara, meine Frau, wartet bereits an der Haustür, als ich Amina von ihrem Gurt befreie. Mit trüben Augen schaut sie mich an. Ohne große Regung hebe ich sie aus dem Auto. „Willst du schon mal hineingehen und dir alles ansehen?“ Frau Pütz spricht sanft, doch Amina nickt nur stumm und marschiert mit ihrem braunen Lederkoffer zu meiner Frau.
„Was sie wohl alles auf ihrer Reise erlebt hat …“ Ich sinniere, während Frau Pütz sich neben mich stellt. „Das möchte ich mir gar nicht vorstellen. Sie ist mit ihren Eltern und ihrem Bruder wohl in Tunesien in ein Schlauchboot gestiegen. Während der Überfahrt gerieten sie in einen Sturm. Am nächsten Tag fand sie ein Rettungsschiff, aber ihre Eltern und ihr Bruder waren nicht mehr an Bord. Nur den Koffer hatte sie noch. Darum sind wir umso glücklicher, dass wir sie …“
Ein dumpfer Knall lässt uns aufhorchen. Amina ist an der Rasenkante gestürzt, ihr Koffer aufgesprungen. Klara, Frau Pütz und ich eilen zu ihr. Erst jetzt sehe ich, dass der Koffer leer ist. Nur ein Spielzeug liegt im Gras – ein kleiner Holzzug. Behutsam hebt meine Frau ihn auf und reicht ihn dem Mädchen. Mit glasigen Augen nimmt sie ihn entgegen und presst ihn an ihre Brust. „Baba.“
„Den hat sie von ihrem Vater bekommen, bevor sie aufgebrochen sind. Er war Tischler“, erzählt uns Frau Pütz später am Esstisch. Amina sitzt währenddessen reglos am Wohnzimmerfenster, den Zug fest umschlungen, den Blick in den wolkenlosen Himmel gerichtet. Sanft streicht sie mit ihren Fingern über das Holzspielzeug.
© Alex_Schwarz 2025-03-23