by Flonie
Mein GroĂvater mĂŒtterlicherseits war ein toller Geschichtenerfinder und MĂ€rchenerzĂ€hler. Die Kinder glaubten ihm und die Erwachsenen amĂŒsierten sich ĂŒber seine Fantasie. Eine KostprobeâŠ
Der Zweite Weltkrieg wurde mit derselben Hoffnung wie der Erste Weltkrieg ausgerufen: Zu Weihnachten sei alles vorbei. Welche Weihnachten, in welchem Jahr, das hat man nie erwÀhnt. Doch ein Ende des Krieges war nicht in Sicht.
Karl musste nicht an die Front, denn er war untauglich. Eine Masernerkrankung hatte seine Augen stark geschÀdigt.
Trotz der schwierigen Zeiten wĂŒnschten sich Karl und seine Frau ein Kind. Eines Tages nahm er einen Laib Brot, wickelte ihn in Papier und ging auf die StraĂe â in der Hoffnung, ein gutes TauschgeschĂ€ft abschlieĂen zu können. Aloisia blieb daheim und erledigte ihre Hausarbeit. Es war ihr ganz recht, dass Karl unterwegs war â so stand er ihr nicht im Weg. Doch sie verstand nicht, was er mit dem Brot bezweckte. Brot war nicht nur schwer zu kaufen â es war ĂŒberhaupt schwer zu organisieren. Die Lebensmittel wurden immer knapper. Am Schwarzmarkt im Nachbarbezirk versuchte Karl sein GlĂŒck. Er zeigte sein frisches Brot und fragte Passanten, ob sie tauschen wollten. Doch ein Mann drohte, die Polizei zu rufen â wegen dieses âunlauteren Angebotsâ. Karl packte das Brot rasch ein und entfernte sich schnellen Schrittes vom Platz. Mit der Polizei wollte er nichts zu tun haben. UnauffĂ€llig zu bleiben â das war in diesen Zeiten ĂŒberlebenswichtig. Er sprach eine Frau an. Doch die hob empört die Hand, als wollte sie ihm eine Ohrfeige verpassen â der er nur mit einem geschickten Ausweichmanöver entging. âStellen Sie sich doch, wie anstĂ€ndige Menschen auch, bei der zustĂ€ndigen Behörde an!â, fuhr sie ihn an. Sie drĂŒckte ihr Kind schĂŒtzend an sich und ging wutschnaubend davon. Aus einem anderen TauschgeschĂ€ft trat ein Mann heraus, sein Gesicht strahlte. Er trug ein BĂŒndel in den Armen. Karl trat auf ihn zu und bot ihm sein Brot zum Tausch an. Doch der Mann stieĂ ihn unsanft zur Seite. âDas habe ich gerade erst ertauscht, und ich tausche es nicht wieder zurĂŒck!â Der StoĂ war so heftig, dass Karl zu Boden fiel und sein Brot auf der StraĂe landete. Er hob es auf, schlug es wieder in sein Tuch und murmelte: âEntschuldigung, ich habe ja nur gefragt. Sie brauchen nicht gleich so grob zu werden.â
SchlieĂlich suchte Karl den Stephansdom auf. Doch kaum hatte er dort sein TauschgeschĂ€ft angeboten, wurde er hochkant aus der Kirche geworfen. Vor dem Dom standen oft Bettler und arme Menschen, die um Geld, Essen, Arbeit oder Kleidung baten. Karl ging auf eine Frau mit einem kleinen Kind zu. âWollen Sie tauschen?â, fragte er. Die Frau nahm das Brot â ihre vier Kinder daheim waren hungrig. Das Baby, ihr fĂŒnftes Kind und ein MĂ€dchen, das sie in den Armen hielt, reichte sie Karl.
âSo war das, liebe Traude. So bist du zu uns in die Familie gekommen.â Die kleine vierjĂ€hrige Traude (meine Mutter), schaute ihren Vater (meinen GroĂvater) mit groĂen Augen an. Sie glaubte ihm jedes Wort.
© Flonie 2022-03-22