Ein trödelnder Fluss

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by ratz

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Havelland

Man könnte sagen, die Havel hat es nicht weit gebracht. Sie entspringt in Mecklenburg Vorpommern in der Nähe der Müritz und mündet nicht einmal 100 Kilometer Luftlinie davon entfernt in Sachsen-Anhalt in die Elbe. Dazwischen liegen 334 Kilometer Flusslauf. Warum bewegt sie sich auf dieser Strecke nicht weiter weg von ihrem Ursprung? Ganz einfach. Es gibt keinen Grund, schnell woanders hinzufließen. Die Mündung der Havel liegt nur vierzig Meter tiefer als ihre Quelle. Mecklenburg Vorpommern ist kein bergiges Land. Also kommt sie schon hier nur langsam voran und bildet in ihrem Oberlauf (das Wort hört sich bei ihr ein wenig übertrieben an) hier eine Ausbuchtung, da einen kleinen See, als ob man unregelmäßig geformte Perlen auf den Fluss gefädelt hätte. Bevor sie nach Oranienburg kommt, gibt es einen Abschnitt, wo sie wie ein ganz normaler Fluss aussieht. Da heißt sie auch gleich “Schnelle Havel”, was sicherlich übertrieben ist. Ich kenne diesen Abschnitt nicht, vermute aber, dass auch hier keine nennenswerte Strömung sichtbar ist. Dann kommt sie in die Nähe von Berlin. Tiefland immer noch, aber mit eiszeitlichen Moränen versetzt, ernste Hindernisse für einen trägen Fluss wie die Havel. Da frisst man sich nicht durch, wie temperamentvollere Flüsse es tun würden. Da schlängelt man sich. Da bildet man in den Mulden zwischen den Hügeln größere Ausbuchtungen, von denen sich manche zu beachtlichen Seen ausgewachsen haben wie der Schwielow, in dessen Nähe ich wohne, oder der Plauer See bei Brandenburg. Einer reiht sich an den anderen. Sie liegen auch nebeneinander, sind manchmal mit Kanälen verbunden, sodass man gar nicht recht weiß, wo da nun der eigentliche Fluss ist. Ist auch nicht so wichtig. Hier glänzen die Seen. Manche sind als Ausstülpungen der Havel erkennbar wie der Große Wannsee und auch der Schwielow. Andere sind gar nicht mehr mit ihr verbunden wie der Große Plessower See. Ja, richtig, immer wenn das Wort “Groß” vor dem Namen eines Sees steht, gibt es natürlich auch einen kleinen See mit demselben Namen dazu. Und es gibt solche, die durch einen sogenannten Durchstich mit der Havel verbunden sind wie der Glindower See, an dem ich wohne. Die eigentliche Havel sieht in der Gegend hier meist auch wie ein See aus, breitet sich weit in die Landschaft wie hinter Spandau und nachdem sie an Potsdam vorbeigeflossen ist. Dieses ausgedehnte System von Seen und Verbindungen zwischen ihnen macht vieles möglich. Im Wasser schwimmen Fische, die man fangen und verkaufen kann. Auf dem Wasser kann man Schiffe schwimmen lassen. Früher verschiffte man Ziegel, heute transportiert man Touristen. An den Ufern gedeihen Obst und Wein, und man kann aufs Wasser blicken. Erst war es der Adel, der seine Schlösser dort baute. Der im 19. Jahrhundert entstehende Geldadel tat es ihm nach mit seinen Villen. Später, als es mit dem Adel vorbei war, kam auch das Volk in den Genuss, sich ein Plätzchen nahe dem Ufer eines Sees zu sichern mit Datscha im Kleingarten. Weiter unten, wenn sich die Havel der Elbe nähert und das Land wieder flach wird, bildet sie mehrere Binnendeltas und am Ende das größte zusammenhängende Feuchtgebiet Mitteleuropas. Die Havel trödelt wie ein Schulkind, das hier etwas sieht, da stehen bleibt. Wenn man sich auf ihre Langsamkeit einlässt, gibt es viel zu entdecken.


© ratz 2024-03-01

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