by Amalien
Seit zwei Stunden wartet sie auf die anstehende Konsultation mit der angesehensten Koryphäe der ganzen Universität. Der Professor gibt ihr zu verstehen, dass sich der Termin auf unbestimmte Zeit in den Nachmittag verschieben würde. Sie schnappt sich den Laptop, um diesen in der Tasche zu verstauen. Minuten später sitzt sie in der Mensa über veganen Spaghetti. Darin herumstochernd erinnert sie sich. Satz für Satz steigt ihr die erste Konsultation ins Gedächtnis. Ihr Magen ziept. Damals präsentierte sie gerade ihre Forschungsarbeit. Mitten im Satz geschah es. Gerade reichte sie ihm die Belege und Statistiken, mit den geführten, anonymisierten wie transkribierten Interviews Betroffener. Er unterbricht sie, indem er seinen langen Arm über den Tisch führt. Dann schnappt seine Pranke ihren Haarschopf, sie zuckt zusammen. Ihre Augen weit geöffnet, blickt sie in einen dunklen Abgrund. Beherrscht und süffisant spricht er: “Du hast keinerlei Ahnung. Machtmissbrauch? Dein Ernst? Im Gegensatz zu Dir, bin ich mir bewusst, in welcher renommierten Einrichtung wir uns befinden. Du bist das Kind, das Produkt einfacher Arbeiter. Der Rest hier stammt aus angesehenen Familien, die einen Beitrag für die Universität, diese Stadt und die Gesellschaft leisten.” Damit meinte er wohl die studierenden Nachkommen von Menschen mit Einfluss. “Du hast Glück hier studieren zu dürfen. Dein Forschungsthema ist – einen Dreck wert. Deinen Fliegenschiss kannst du einstampfen, schreddern! Tritt mir erst wieder unter die Augen, wenn du einen Mehrwert für diese Einrichtung zu bieten hast! Beschmutze nicht das Nest, das dich beschützt!”, schloss er die Konsultation ab. Ein zersprungener Spiegel zusammengekehrt würde sich besser fühlen, als sie in diesem Moment. Ohnmacht wie Scham stiegen ihr mit knalliger Röte ins Gesicht. Für vierzig Tage mied sie es, sein Büro zu passieren. Erst als die neue Arbeitsstudie durch ihn bestätigt werden musste, ging sie. Eine Flauheit überkam sie, wie er ihr auf der Treppe entgegenkam. Er hatte sie zuerst registriert, wie ein Wolf auf Jagd. Seine Arme weit geöffnet umarmte er sie mit großväterlicher Geste in der Gegenwart vorbeiflanierender Studierender. Reines Kalkül und Taktik, eines Mannes mit alleinigem Recht auf Absolution. Er küsste sie auf die Wange. Übersetzt hieß dies: “Das Lamm ist geschlachtet.” Das Verhalten anderer ihr gegenüber fräste sich in ihren Kopf ein.
Nach einem Doktortitel, sowie jahrelanger Dozententätigkeit als Anthropologin an der “University of Birmingham” kehrte sie zurück in die Heimat. Jetzt wurde sie Professorin für Ethnologie und Anthropologie. Auf eigene Kosten renovierte sie sein ehemaliges Büro. Jetzt konnte man tatsächlich von einem Besprechungszimmer reden. “No more man caves in here”, murmelte sie. Licht durchflutet den Raum in dem Moment als ein Austauschstudent von Übersee anklopft. Sie bittet ihn herein und nimmt Platz auf dem Sessel, neben dem einfachen Regal voll einschlägiger Wissenschaftsliteratur, Bildersammlungen mit alphanumerischer Kennzeichnung am Buchrücken. Sie schenkte dem Studenten ein angemessenes Lächeln und bittet ihn um Erläuterung zu seinem Thema. Er spricht leise den Arbeitstitel aus: “Narrative Erzählungen an Universitäten über Männer- und Frauenbilder ausländisch Studierender in der Gegenwart. Dazu führe ich eine Vergleichsstudie für den Osten und Westen Deutschlands durch.”
© Amalien 2024-03-04