Eine schrecklich nette Familie

Santosha

by Santosha

Story

Falls es Gott gibt, war ER (oder SIE?) in diesem Haus? Die großen blanken Zähne der alten Frau, die beim Lächeln hervorschienen, täuschten mich nicht über das hinweg, was ich sah, roch, fühlte und hörte – blankes Grauen nämlich!

Marienstatuen und Ikonen: zwischen Kleidungsstücken und Krimskrams. Bibelspiele mit dem Titel „Ordnen Sie die Heiligen nach Erscheinungsjahr!“ waren gar nicht das, was diese Familie unheimlich machte. War es der undefinierbare Geruch oder die Geräusche beim Essen, das Schmatzen und Klatschen des Salates auf den Teller? Das gespenstische Klirren des Glockenspiels im Wind? Oder das strafende Räuspern des alten Mannes, dessen hochgezogene Augenbrauen mich an einen bekannten Kriminalfall denken ließen?

Urteile nicht, urteile nicht, sagte ich mir, als ich in die Küche ging, um meine Hilfe anzubieten. Es war ein Versuch, die Großfamilie kennenzulernen. Angeschlagenes Geschirr stand zum Servieren einsatzbereit am Tisch, Löffel und Gabeln lagen lose daneben. Mein Blick fiel auf ein gewaltiges, scharfes Messer. Die aufgetürmten benutzten Teller versteckten leider nicht die Insektenfalle, die mitten im Raum etwa 40 toten Tierchen ihre letzte Ruhestätte bot.

„Hat die Katze Flöhe?“, wurde bei Tisch in die Runde gefragt. Ich schaute auf das magere Tier. Jemand nickte. Katzenflöhe springen auf Teppiche und rasten sich auch gerne auf Menschenhaut aus. ICH WILL HIER WEG, schrie alles in mir verzweifelt, doch war es schon spät. Dies war meine heutige Unterkunft am Jakobsweg irgendwo mitten am Land in Frankreich. Ich konnte von Glück reden, ein Zimmer gefunden zu haben bei einer Familie, die Pilgern helfen wollte. War das tatsächlich Glück? Ich hustete; meine Hausstauballergie meldete sich. Wie sollte ich sagen, dass ich gehen wollte? Wohin sollte ich mitten in der Nacht? Sollte ich einfach meinen Rucksack schnappen und zur Tür hinaus? Das blanke Entsetzen kroch mir erst nach Mitternacht in meine Glieder, als ich allein im Bett lag. Allein oder mit tausend Bettwanzen? Es roch nach vermodertem Holz. Ich schaute sehnsuchtsvoll das Fenster an, durch das unerträgliche Hitze strömte. Sollte ich da hinaus, einfach fliehen? Leider war ich im zweiten Stock. Die Zimmertür war nicht verschließbar. Ich jammerte mich still in den Schlaf, fühlte mich schutzlos.

UND DA KAMEN SIE AUCH SCHON, UM MICH ZU HOLEN!

Der strenge alte Mann mit den hochgezogenen Augenbrauen, der halbwüchsige Enkelsohn, verlegen grinsend, und im Hintergrund der introvertierte Vater. Seine Frau sah hilflos zu, wie sie mich aus dem Zimmer schleppten. Die kräftige 200 Kilo schwere Tochter half mit, ungern aber doch. Hat die alte Frau mein klopfendes Herz gehört, als sie das Ganze mit ihrem falschen Lächeln und den riesigen blanken Zähnen beobachtete?

Wieder auf meiner Route zum nächsten Etappenziel des Jakobswegs klopfte mein Herz morgens noch eine ganze Weile. Doch die schrecklichsten Dinge waren zum Glück nur in meinem Kopf passiert.

© Santosha 2020-09-08

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