Einen Liter

Alicja Pawel

by Alicja Pawel

Story

Jeden Morgen spüre ich diesen trockenen Staub im Mund. Es ist quälend, da ich bis zur Mittagsstunde warten muss, um ihn hinunterzuspülen. Um 12 Uhr kommt der Wasserwagen und jeder bekommt seine Tagesration. Diese wird der Familiengröße angepasst. Ich bin allein und bekomme einen Liter am Tag. Einen Liter müsste ich eigentlich trinken. Doch dieser eine Liter muss für alles herhalten. Wer hätte gedacht, dass mein Leben sich jemals nur darum drehen wird, wie ich diesen einen Liter sinnvoll nutze, um den Tag zu überstehen. Sich zu waschen, Durst zu stillen, die gröbsten Flecken meiner Kleidung zu entfernen oder das Geschirr zu reinigen, ganz ausgenommen etwas zu kochen. Gas haben wir noch genug und ich kann alles auf dem Gasgrill erwärmen. So habe ich weniger Geschirr zum abwaschen. Ausgelassen Besuch zu empfangen, wie es zu meinen guten alten Zeiten mal war, ist schwierig geworden. Doch man gewöhnt sich an alles. Jeden Tag denke ich an meine Söhne, die ums Überleben für ihre Familie kämpfen müssen. Manchmal bekommen sie die Hälfte meines Wassers. Mein schlechtes Gewissen streicheln. Warum habe ich mir damals nicht mehr Gedanken gemacht? Mülltrennung? Sparsam mit dem Wasser umgehen? Weniger Fleisch essen? Warum habe ich bloß ständig diese Avocados gekauft? Dann das Gelächter über die streikenden Schüler, die immer freitags das Ende kommen sahen. „Die wollen doch nur schulfrei!“ Ich war so blind.

Ab morgen soll es regnen. Das ist eine gute Woche! Drei Tage Regen! Meine Regentonne wird voll werden und meine Enkelkinder können mich besuchen, damit sie sich waschen können. Den Rest des Wassers lagern wir in Kanistern ein. Ein gutes Gefühl. Jedoch auch gefährlich. Ich wurde schon öfter nach Regentagen überfallen und mir wurde Wasser entwendet. Ich wehre mich nicht, da ich am Leben bleiben muss. Meine Söhne haben mir eine stabile und dicke Metalltür mit einem zusätzlichen Schloss eingebaut. Es ähnelt einem Banktresor. Auch die Fenster sind mit Metall zugemauert. Das ist ein Luxus, den nicht viele haben. Seitdem habe ich weniger Angst und es ist niemand mehr ins Haus gekommen.

Es ist nicht einfach, da durch die Dürre und den Wassermangel neue Epidemien entstanden sind. Einige ließen sich damals impfen, als diese erste Epidemie uns erwischte, den Namen habe ich vergessen. Es sind mittlerweile so viele. Einige ließen sich nicht impfen, so entstanden immer mehr Mutanten. Heute können wir nichts mehr tun. Meine Enkelkinder und meine Söhne kommen mich in Masken besuchen. Ich darf nicht krank werden, da es mich jederzeit töten könnte. Ich muss noch solange ich kann leben, da mein Dasein täglich einen Liter Wasser beträgt. Es gibt, außer einen Liter am Tag, keine Hilfe mehr. Die Politik heute? Jeder für sich und der mit dem Wasser regiert. Es wechselt stetig und die Menschen werden zu Raubtieren. Ich habe nicht mehr viel Zeit auf dieser Erde und kämpfe, solange ich noch kann für meine Kinder. Warum habe ich damit bloß so spät angefangen…

© Alicja Pawel 2022-01-23

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