Der Wirt kam unaufgefordert an unseren Tisch und kassierte ab, weil es schon spät war und er den Laden jetzt endlich schließen wollte. Vor der Tür verabschiedeten wir uns per Handschlag, einer bestellte sich ein Taxi, ein anderer ging zur Bahn und ich zog zu Fuß weiter. Ein Spaziergang durch die kalte Nachtluft hat noch nie geschadet. Ich machte sogar einen kleinen Umweg und ging an den großen Schaufenstern der Geschäfte vorbei, die zu dieser Jahreszeit mit allerlei Weihnachtsschmuck und Lichtinstallationen bis zum Morgengrauen strahlten.
Zwei Ecken von meiner Wohnung entfernt hörte ich schnell herannahende Schuhabsätze. Es wurde immer lauter. Gerade als ich mich umdrehte, lief eine junge Frau an mir vorbei und blieb einige Meter weiter abrupt vor einem Hauseingang stehen. Sie suchte hektisch nach dem Schlüssel in ihrer Tasche. Leicht irritiert von diesem Anblick bemerkte ich die beiden Typen nicht, die ihr scheinbar folgten. Einer rempelte mich an, als sie an mir vorbeizogen. Sie drängelten sich an der Frau vorbei und versperrten ihr den Weg zur Tür. Bedrängten sie. Einer nahm ihr die Tasche ab und warf sie zu Boden, sie ließ die Schlüssel fallen und versuchte die Männer von sich wegzudrücken. Sie packten sie, zogen ihr an den Haaren, als ich laut pfiff und die Aufmerksamkeit der Drei auf mich zog. Ich gab den beiden Typen zu verstehen, sie sollen sich vom Acker machen und die wehrlose Frau in Ruhe lassen, sonst ziehe ich hier mal ganz andere Seiten auf, erhob den Handrücken und machte eine ruckartige Geste, worauf die beiden Männer wegrannten.
In irgendeinem Multiversum hat sich die Situation bestimmt genau so zugetragen, doch in dieser Version spürte ich den Schlag ins Gesicht erst dann, als ich schon am Boden lag, die Tritte dafür direkt und umso mehr. Irgendwann hatten sie dann genug, ich auch, und sie gingen. Die Frau war mittlerweile in ihrer Wohnung angekommen, stand oben am Fenster und rief etwas hinunter. Wäre da nicht dieses Klingeln in meinen Ohren gewesen, ich hätte bestimmt gehört, was sie von mir wollte. Kurz bevor der Krankenwagen eintraf, fing es an zu schneien. Ich dachte immer, Schnee wäre kalt. Sie packten mich auf die Trage, fixierten, was noch zu fixieren war und schoben mich in den Wagen. Ich schaute noch einmal nach oben zu der Frau und streckte ihr meinen Daumen entgegen. Natürlich nicht, der zwar zweimal gebrochen. Aber sie wusste bestimmt, dass ich das getan hätte, wenn ich es könnte. Es tat gut, einfach mal ein Held zu sein.
© Jochen Rathmann 2023-08-30