“Wie meine Schwester dir erzählt hat, nahm uns eine Familie auf. Meine Mutter und Schwestern putzten, kümmerten sich um deren Kinder und kochten. Ich musste dem Vater und dem Sohn auf dem Bauernhof helfen”, Horst blickt gedankenverloren aus dem Fenster, als spiele sich alles noch genau in seinem Kopf ab. Er erzählt, dass die Familie sie nicht übermäßig gut behandelte. Aber auch nicht schlecht. Sie bekamen zwar kein Geld, aber dafür einen Schlafplatz, sowie Essen und Trinken. Auf dem Bauernhof war die Arbeit hart. Sie alle hatten um fünf Uhr morgens aufzustehen und arbeiteten den gesamten Tag bis zum späten Abend. Horsts Aufgaben lagen darin die Ställe auszumisten und die Tiere zu versorgen. Es gab Schweine, Kühe und Hühner. Zudem hatte er dem Vater der fremden Familie beim Schlachten zu helfen.
“Wie lange habt ihr dort gelebt?”
“Etwa drei Jahre”, antwortet er nach kurzer Überlegung.
“Und sie zahlten euch nie Geld?” Er schüttelt den Kopf.
“Ich kann es ihnen nicht einmal verübeln. Sie hatten uns schließlich auch nicht freiwillig aufgenommen, sondern weil sie es mussten. So war das damals. Wir wurden vertrieben, weil wir zu Deutsch waren für Tschechien, aber für die Deutschen waren wir auch nicht deutsch genug. Sie wollten uns nicht haben. Aber wenn sie uns schon aufnehmen mussten, dann hatte man eben zu helfen”, ich puste heftig die Luft aus meinem Mund.
“Was geschah nach den drei Jahren?”
“Meine Mutter hatte die Familie nach einiger Zeit gebeten, sich Arbeit suchen zu dürfen, um etwas Geld zu verdienen. Das stimmte diese natürlich nicht glücklich. Meine Schwestern und ich fielen bereits den Vormittag über aus, da wir wieder eine Schule besuchten. Sie arbeitete also auf dem Hof bis wir von der Schule kamen und sie ablösten, dann ging sie im Dorf arbeiten. Eine Zeit lang in einer Bäckerei, eine Weile in einem Friseursalon. Den Beruf hatte sie immer lernen wollen. Nach drei Jahren, bot ihr dortiger Chef ihr eine Wohnung an”, Horst lächelt und dreht gedankenverloren an seinem Ehering, den er am Finger trägt.
Er erzählt, dass die drei relativ schnell herausfanden, dass die Mutter mit dem Chef des Salons eine Beziehung eingegangen war. Diese müsste damals ungefähr dreißig gewesen sein, schätzt er. Ungewöhnlich, in einer solchen Zeit, dass ein Mann sich einer verwitweten Frau mit drei Kindern annimmt.
“Das war das Beste, was uns passieren konnte. Dieser Mann war der Vaterersatz, den ich mit meinen mittlerweile zwölf Jahren gebraucht hatte!”
Die Mutter und der Mann heirateten und so kam allmählich Ruhe in das Familienleben. Natürlich trauerten sie und selbstverständlich waren die vergangenen Jahre nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen. Sie alle waren geplagt von Albträumen.
“Manchmal hörte ich sie nachts schreien. Und manchmal, war ich derjenige, der schrie. Dann beruhigten wir uns gegenseitig. Dennoch lebten wir ab diesem Zeitpunkt ein normales Familienleben. Auf die vielen schlimmen Jahre folgten viele schöne und traumhaft langweilige Tage. Ich erinnere mich an ganz simple Tage. Die wir alle gemeinsam am See verbrachten und lachten. Wenn ich zurückdenke, sehe ich, wie wir uns im Wasser gegenseitig nass spritzten und herumalberten. Manchmal sind es diese einfachen Momente, die einen im Nachhinein lächeln lassen.”
© Michelle Berger 2024-08-22