by Gerda Modera
Platz schaffen, bevor ich überquelle. Es möchte etwas raus. Raus-geschrieben werden. Was wohl? Ich warte. Inzwischen betrachte ich meine Adern am Handrücken, verfolge mit dem Zeigefinger ihren Verlauf, massiere sanft meinen Athrosefinger und ärgere mich über die kleine schmerzende Brandwunde am Daumen. Beim Befüllen der Wärmeflasche nicht aufgepasst. Doch langsam kommt Bewegung in meine Hände, die Finger wärmen sich auf und warten auf ihren Einsatz.
Der Augenblick. Die Zeit zwischen zwei Wimpernschlägen. Dieser kurze Moment entscheidet, ob sich ein Bild, eine Szene bei mir einbrennen. Ob ein “screenshot” gemacht wird. Blitz, Klick, eingefangen und abgespeichert.
Erfreulich, wenn es sich um Szenen handelt, die mit angenehmen Gefühlen verbunden sind. Doch ich habe auch den Ruf auf “Obezahra” zu stehen. – Natürlich erlebe ich die nicht so gerne in meinem wirklichen Leben, sondern lieber auf Leinwand, Bühne und Papier.
Was mich aber echt und wirklich “obezahrt” sind die realen, die echten Dramen und Katastrophen. Heftige, schockierende Bilder, die direkt und unzensiert ins Unterbewusste abzischen. Zu spät, um die Löschtaste zu aktivieren oder das ganze Dilemma mit etwas Positivem zu überschreiben.
So gerade geschehen, als ich den Fernsehbildern aus dem Erdbebengebiet Türkei und Syrien entrinnen wollte. Ich konnte weder wegschauen noch aufstehen. Die Entscheidung war gefallen. Ich war den Nachrichten hilflos ausgeliefert …
… Ich erfahre, dass die Zahl der Toten im Erdbebengebiet ins Unermessliche steige und die Seuchengefahr sehr hoch sei. Und doch gibt es sie immer wieder, die kleinen Wunder. Zeit zum Durchatmen. Zehn Tage unter Schutt begraben und überlebt! Wie ist das möglich? Internationale Hilfe, tausende helfende Hände und doch reichen sie nicht. Ein Tropfen auf kaltem Beton.
… Hellgrauer Hintergrund, kein Stein liegt mehr auf dem anderen. Schuttberge. Fühlbare Eiseskälte. Ich sehe einen Mann mit neongelber Warnweste, der zusammengesunken auf einem Steinbrocken sitzt. Er hält eine Hand, die aus dem Trümmerhaufen herausragt. Kopf und Körper lassen sich unter der Betondecke nur erahnen.
Das Pochen in meinen Ohren wird heftiger, als der Nachrichtensprecher erklärt, dass das Erdbebenopfer ein fünfzehnjähriges Mädchen sei, ihr Vater seit Stunden hier sitze und dabei ständig ihre Hand halte.
Und ich? … Leide wegen einer kleinen Brandwunde am Daumen.
Lächerlich.
© Gerda Modera 2023-02-25