Es ist wieder einmal so weit, endlich Klassentreffen. Die Vorfreude auf diesen kurzen Ausflug in die heile Welt der Jugendzeit zählt die Tage bis dorthin. Nach und nach trudeln alle ein. Die meisten schauen sich nur kurz um und lächeln. Etliche strahlen regelrecht, genießen es in vollen Zügen, wie die unbeschwerte Jugend zurückkehrt. Wir blicken einander an, nehmen so manche von Sorgen gezeichnete Falte im Gesicht wahr und glätten sie im selben Moment mit einer freundschaftlichen Umarmung. Einige denken wehmütig an jene, die wir auf dem Weg viel zu früh verloren haben. Bald gelingt es aber, mit Kummer schwer bepackte Rücksäcke an der Garderobe abzugeben, die Mäntel des Schicksals abzustreifen und einfach nur da zu sein. So manches Wehwehchen ist im Nu verflogen. Strapazen existieren für kurze Zeit nicht mehr. Wir sind eine Klasse, eine Gemeinschaft, alle gehören dazu. Wir sind jung, wir sind schön, stark und unbezwingbar.
Vieles hat sich verändert. Jahrzehnte füllen ganze Bücher. Dennoch sind wir einander nicht fremd. Eine gewisse Vertrautheit lebt Beständigkeit. Gemeinsam vergessen wir für heute Abend die Dinge, die wir selber für uns weniger gelungen erachten. Wir bewerten keinen Lebenslauf, vergeben keine Schulnoten. Wir erzählen uns die besten aller Geschichten von früher, als sich die Welt noch in gewohnter Ordnung drehte. Wir denken an die Zeit, wo wir aus dem Vollen schöpften und vor allem, als wir wählen konnten, wo uns alle Türen weit offen standen.
Fröhliches Lachen verbindet uns. Wir amüsieren uns, applaudieren der gemeinsam erlebten Vergangenheit. Wir tratschen angeregt wie damals im Hof vor dem Raucherzimmer: „Weißt du noch, wie die erste Zigarette grauslich geschmeckt hat? Kannst du dich noch erinnern, wie wir gewartet haben, dass der Direktor seinen roten mit dem grünen Kugelschreiber verwechselt und unsere Fehler grün markiert? Oder, als wir einen Lehrer in das Abstellkammerl sperrten? Denkst du noch an die vielen Freistunden, in denen wir unser Taschengeld beim Pokern verspielt haben? Riechst noch den Duft von warmem Kakao, den die Schulwartin bei so manchem Problem für uns gekocht hat? Erinnerst du dich an die älteren Burschen von der anderen Klasse, und natürlich an die legendären Busfahrten nach Wien ins Theater, hinten in der letzten Reihe?”
Allerlei Emotionen rühren uns. Ein längst vergessen geglaubtes Gefühl verlangt unerwartet nach Aufmerksamkeit. So manche Liebelei flackert wieder auf, denn alte Liebe rostet ja bekanntlich nicht. Man denkt insgeheim: „Was wäre, wenn, gewesen?”
Die Gegenwart verliert sich im Gestern. Die Stunden vergehen wie im Flug. Wir stoßen auf das Leben an, brauchen eigentlich keinen Alkohol, um ein Hochgefühl zu spüren. Gemeinsame Erinnerungen lassen uns federleicht und unbeschwert das Jetzt genießen. Bevor wir langsam aufbrechen, tauschen wir Telefonnummern aus, zeigen uns Fotos von unseren Lieben daheim. Einer nach dem anderen begibt sich wieder auf seine eigene Lebensreise. Auf der Heimfahrt begleitet uns das Gefühl ewig jung zu sein. Wir sind voller Tatendrang. Wir sind stark und unbesiegbar. Was kostet schon die Welt? Heute reißen wir ihr sowieso wieder einen Haxen aus.
© Christa Weißmayer 2022-10-24