Endlich machen wir es wahr. Wir fahren ein paar Kilometer, um Erbeeren zu pflücken. Fahren müssen wir ein Stück, denn bei uns oben auf dem Berg gibt es kaum Erdbeeren. Zu kalt, zu viel Wiese und Wald. Seit Jahren schon will ich diesen Kindheitsgenuss nochmal wieder erleben. Und das ist ja eigentlich nur eine Kleinigkeit – Erdbeeren pflücken. Keine Ozeanüberquerung, keine Reise zum Mond, nicht mal ein Flug in den Urlaub – nur Erdbeeren pflücken. Kleine aromatische rote Früchte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Und nun ist es soweit. Bewaffnet mit Behältern, die vorher abwogen werden, machen wir uns auf dem Feld an die Beute. Schon allein als wir ankamen und aus dem Auto stiegen, umhüllte uns regelrecht der Duft der sonnenwarmen Beeren. Unglaublich. Betörend. Unfassbar intensiv. Ich war so überrascht, dass ich abrupt stehen blieb. Damit hatte ich nicht gerechnet. Schon allein dafür hat sich die Fahrt hierher gelohnt.
Der Duft des Kindheitssommers im heimischen Garten. Damals haben wir jeden Tag eine große Schüsssel voll davon pflücken können. Nein, müssen. Damit keine von diesen Köstlichkeiten verkam. Sie wurden kleingeschnitten, mit Zucker bestreut und mit Sahne als Nachtisch verspeist. Wir hatten so viel davon, dass wir irgendwann tatsächlich genug hatten und keine mehr sehen wollten. Heute muss ich mir dieses kostbare Obst im Supermarkt für teures Geld kaufen. Und wenn dann mal zwei, drei Beeren wie Erdbeeren und nicht nur nach rotem Wasser schmecken, hat man schon Glück.
Genau deswegen stehe ich jetzt auf dem Acker und weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich hocke mich einfach hin, beginne zu pflücken, Beere für Beere, große, rote, pralle Beeren. In wenigen Minuten ist die halbe Schale voll, und mein Magen auch. Die Hände rot, die Arme voll roter Pustelchen (von den Härchen, die auf den Blättern sitzen – macht nix, geht wieder weg), die Hose rotgefleckt, das Gefäß gefüllt mit roten Früchten. Ich bin ganz benommen vom Geschmack und Duft.
Nach dem Bezahlen, eine kleine Unterbrechung meiner Schwärmerei, steigen wir ins Auto und fahren mit der Ernte nach Hause. Sogar das Auto duftet jetzt. Wenn man diese Momente doch einfach konservieren könnte! Aber dafür verarbeite ich fast alle Beeren zu Marmelade. So viel Arbeit, aber das lohnt sich allemal. Zum einen haben wir so diese süße Verführung in Gläser verpackt und können uns noch lange daran erfreuen. Einfach ein Glas holen, öffnen, den Duft einsaugen und einen Löffel voll genießen. Zum anderen ist das Einmachen eine Arbeit, die mich immer wieder ins Leben zurückholt, mir zeigt, wie viel Glück wir doch haben.
Zum Abendessen gibt´s dann heute mal Erdbeerbrot. Eine erdbeerrote Delikatesse. Eine erdbeerrote Wonne. Die erbeerrote Kindheitserinnerung. Wahr geworden und auf´s Brot gelegt. Riech mal! Mmh! Futter für die Seele. Meine Seele versinkt gerade im Erdbeer(b)rot.
© Martina Suthoff 2022-06-13