Erinnere mich einfach nicht

Isabella Souza Furtner

by Isabella Souza Furtner

Story

Die Arme meiner Mutter lagen um meine Schultern, als wir zusammen in meinem Bett lagen. Die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen, sodass die Zehen unten rauslugten. Mit ihren Fingern strich sie mir übers Haar, während sie mir aus unserem Lieblingsbuch vorlas.

Das ist Jahre her. Ich erinnere mich nicht mal mehr an ihre Stimme. Trotzdem trauere ich immer noch um sie. Ihre Liebe war so groß, dass die ganze Welt damit auskommen würde. Sie lachte unglaublich viel. War die glücklichste Person, die ich kannte. Im Nachhinein weiß ich es besser. Trotzdem behalte ich sie gerne so in Erinnerung. Anders kenne ich sie nicht. Sie wurde zu früh aus diesem Leben gerissen. Meine Finger streichen über ein Foto von uns. Breit lächelnd schaute ich in die Kamera, meine langen Haare zu einem Zopf gebunden und die Arme um meine Mutter geschlungen. Sie sieht müde aus. Unter ihren Augen liegen dunkle Balken, die einfach nicht verschwinden wollen. Ihr Körper war dünn und mager, ohne Leben. Jetzt bin ich traurig, sie so zu sehen. Sie war irgendwie schon tot, bevor sie wirklich gestorben ist. Der Krebs hat nicht nur ihren Körper von innen getötet. Als Erstes hat er mit ihrem Kopf angefangen. Die ganzen Medikamente, die in diesen Körper gepumpt wurden. Trotzdem hat sie sich nie beschwert, sondern mir immer noch aus dem Buch vorgelesen. Auch wenn ich mit meinen acht Jahren schon längst selber lesen konnte. Es wurde zu einer Art Ritual, dass ich abends in ihrem Bett lag, an sie gekuschelt, und ihrer Stimme lauschte. Ich stelle das Bild zurück zu den anderen, die das Regal füllen. Jeden Abend geht mein Vater die Treppe runter und unterhält sich mit ihr. Setzt sich auf das schon abgewetzte Sofa und redet mit ihr, als ob sie nicht schon zwölf Jahre lang unter der Erde läge. Damit sage ich nicht, dass ich sie nicht vermisse. Doch ich erinnere mich einfach nicht an sie. Als ob mein Kopf alles ausradiert hätte, was von ihr vorhanden war. All das Wissen, das ich besitze, kommt von Geschichten, die mir erzählt wurden, oder Fotos, die ich in den Händen halte. Es sind keine Erinnerungen, die aus mir kommen, aus meinem tiefsten Herzen. Es sind Erinnerungen aus andern Köpfen. Von anderen Menschen. Trotzdem halte ich sie in Ehren.

Denn sie ist meine Mutter.

Der Mensch, der mich geboren hat.

Und eine Person, die ich vermissen werde, egal ob ich mich an sie erinnere.

© Isabella Souza Furtner 2022-08-28