Ich sitze in Muttis Küche und lege „Die Bagage“ zur Seite. Der Kühlschrank surrt. Sonst kein Geräusch. Ich nehme einen Schluck Kaffee. Lehne mich zurück. Auf der riesigen, weißen Küchenuhr ist die Zeit stehengeblieben.
Mein Bruder hat alle Kastentüren in Schlaf- und Kinderzimmer geöffnet und ein paar Fenster gekippt. Ich mache die Tür zur Veranda auf. Damit es durchzieht. Ich werde zwei Nächte in Linz bleiben, vielleicht drei, wenn ich’s so lange aushalt’. Mein Bruder hat vergessen, den Boiler einzuschalten. Ich habe mich kalt geduscht.
Im Wohnzimmer und in der Küche ist alles beim Alten. Überall liegen Fetzen. Wie eh und je. Meine Mutter würde nicht „Fetzen“ sagen. Sie braucht kein Wort für etwas, das für sie normal ist, diese Stoffbahnen oder Tücher, die überall aufliegen, auf den Sitzflächen der Sessel und Fauteuils, auf der Ledercouch. Ich nehme an, diese Fetzen, wie wir sie nennen, haben nur einen Zweck, nämlich: die Möbel zu schonen. Damit sie schön bleiben. Auseinandergerissene, abgenützte alte Leintücher sind’s, stellenweise ganz dünn. „Moa(r)b“ würde Mutti dazu sagen, ein Wort, das ich lang nicht mehr in den Mund genommen hab’.
Auch vor der Abwasch in der Küche liegt so ein Fetzen, ein doppelt zusammengelegter. Der Falten wirft. Gefährlich sei der, hat der Notarzt gesagt, erzählt mir mein Bruder. In Ihrem Alter kann ein Sturz sehr gefährlich sein, hat der Arzt unserer Mutter eingeschärft. Daraufhin hat sie den Fetzen vor der Abwasch weggeräumt, pro forma natürlich, und als der Arzt weg war, hat sie ihn wieder hingelegt.
Am Abend frage ich meinen Bruder, der mit seiner Lebensgefährtin „unten“ wohnt, im Erdgeschoß unseres Elternhauses, wo die Kiste mit den Fotos ist. Die Alben bewahrt unsere Mutter im Wohnzimmer auf, im Einbauschrank über dem Fernseher, das weiß ich, aber die Kiste, in der alle möglichen Fotos, Totenbilder und Grußkarten durcheinanderkugeln, die hat sie gut verräumt.
Weißt du, wo ich die Kiste gefunden hab’, sagt mein Bruder. Es ist eine rhetorische Frage, die er im selben Atemzug beantwortet. Im Schrank vorm Klo, im Fach über den Putzmitteln und dem Schuhputzzeug. Dort, wo sie keiner vermutet.
In der „Bagage“ schreibt Monika Helfer, die Erinnerung muss als heilloses Durcheinander gesehen werden. Und deshalb hat ihr Roman auch keine erkennbare äußere Struktur. Erinnerungsfetzen, Zeitsprünge von anno dazumal ins Jetzt. Und doch fügt sich eines ins andere.
Abends sitzen mein Bruder und ich vor der Kiste, in der heilloses Durcheinander herrscht. Wir nehmen ein Foto nach dem anderen in die Hand, und ich erklär’ ihm, wer drauf ist. Mein Bruder ist 12 Jahre jünger als ich. Wir haben verschiedene Väter. Aber ihre Fotos liegen in derselben Kiste, sein Vater in Soldatenuniform, mit seinem rosaroten Führerschein, und meiner, wie er in einen See köpfelt im Sommer, Skitouren macht im Winter. Ein Bündel mit Glückwünschen zur Hochzeit im Herbst 1954 und Beileidsbekundungen. Und dazwischen nur fünf Jahre.
© Sonja M. Winkler 2021-07-05