Es sind nicht die Worte, die zählen: Teil 2

Marcel Becker

by Marcel Becker

Story

Liebesbriefe

Die Zeit verging wie im Flug, und als die Dunkelheit die Stadt endgültig umhüllte, war der junge Schriftsteller sich nicht mehr sicher, ob er in ihren Worten, in ihrem Lächeln oder gar in der Art, wie sie ihn ansah, die Grenze zwischen Realität und Traum überschritt. „Es ist spät,“ murmelte sie schließlich, „ich sollte gehen.“

„Ein Moment, bitte,“ rief Emil, seine Stimme zitterte leicht. „Darf ich Ihnen nicht noch ein Kapitel anbieten? Oder vielleicht nur einen weiteren Satz meiner Geschichte?“

Sie lächelte, und in diesem Augenblick, der so flüchtig und doch so bedeutend war, wusste Emil, dass er sie nicht verlieren wollte. „Ein Kapitel ist nicht genug, Emil. Es sind die ungeschriebenen Seiten, die ich mir wünsche,“ flüsterte sie und ließ ihn mit einem intensiven Blick zurück, der in ihm eine Flamme entzündete und seine Seele aufs Tiefste erwärmte.

Die Wochen vergingen, und Emil fand sich in einem ständigen Zustand der Erwartung und des Verlangens, immer wenn er an die kommenden Besuche dachte. Ihre Gespräche wurden zu seinem täglich Brot, zu seinem Licht in der Dunkelheit, seinem Stern am Nachthimmel bei jedem Blick aus dem kleinen Fenster über seinem Schreibtisch. Er schrieb mit einer Leidenschaft, die er nie zuvor gekannt hatte, und jede Zeile war ein Liebesbrief an sie, auch wenn sie es nicht wusste.














Doch je mehr er über sie schrieb, je mehr er sich in sie so wie sie sich in ihn hinein dachte, desto schneller wuchs ein beunruhigender Gedanke in ihm: Was, wenn sie nur eine Figur in seiner Geschichte war? Ein Schatten, der nur existierte, solange er die Feder führte? Die Angst ergriff ihn wie ein kalter Hauch, der seine Vorhänge bewegte und sich dann langsam auf seiner Haut niederließ, als er erkannte, dass er selbst in diesem Moment nur ein Teil des Erzählten war, eine Figur, die darauf wartete, dass das Ende des Kapitels kam. Der Gedanke, dass mit dem letzten Satz auch seine Existenz enden könnte, schnürte ihm die Kehle zu.

© Marcel Becker 2024-12-20

Genres
Novels & Stories
Moods
Emotional