Es sind nicht die Worte, die zählen: Teil 3

Marcel Becker

by Marcel Becker

Story

Abschied

Am letzten Abend vor ihrer Abreise saßen sie erneut in seinem kleinen Arbeitszimmer. Die Atmosphäre war von bittersüßer Melancholie erfüllt, die Art, die Träume in Erfüllung gehen ließ, als sie über alltägliche Dinge sprachen, während in Emil das Verlangen nach einer Beichte brannte.

„Ich habe eine Geschichte geschrieben,“ begann er, und seine Stimme zitterte. „Eine Geschichte über das, was wir sind, über das, was wir sein könnten…“

Doch bevor er seinen Gefühlen richtig Ausdruck verleihen, sie in Worte fassen konnte, nahm sie seine Hand und sah ihm in die Augen. „Manchmal, Emil, sind es nicht die Worte, die zählen, sondern die Gefühle, die wir teilen.“

In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er nicht nur ein Autor, sondern auch ein Gefangener seiner eigenen Erzählung war. Wenn sie ging, würde auch ein Teil von ihm mit ihr verschwinden. „Aber was geschieht mit mir, wenn die Geschichte endet?“ fragte er, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

„Vielleicht sind wir mehr als Worte auf einem Blatt Papier,“ antwortete sie mit einem leichten Lächeln, doch ihre Augen trugen einen Schatten der Traurigkeit, den Emil nicht ignorieren konnte.

Mit diesen Worten stand sie auf, bereit zu gehen. Emil fühlte, wie die Zeit stillstand, und als sie sich an der Tür umdrehte, flüsterte sie: „Vielleicht wird diese Geschichte irgendwann weitergeschrieben, wo auch immer wir dann sind.“

Und als die Tür sich ein letztes Mal schloss, blieb Emil allein zurück, die Feder in der Hand, doch die Seiten des Papiers waren leer. Ein tiefes Verlangen nach der ungeschriebenen Geschichte, die zwischen ihnen bestand, nagte an seiner Seele. Er wusste, dass die Liebe, die sie teilten, ihn am Leben hielt, doch je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er ohne ihre Gegenwart in der Erzählung nicht existieren konnte.

Ein unauslöschliches Kapitel, das niemals enden würde, hing in der Luft – und doch fühlte er, wie die Worte sich ihm entzogen, als ob die Feder auf dem Papier einen eigenen Willen hätte. In der Stille der Nacht, umgeben von leeren Seiten und Augen voller Tränen, wurde ihm bewusst, dass die wahre Magie der Erzählung in den Erinnerungen und der Liebe, die sie teilten, lebte – und doch war es eine Liebe, die nur in der Dämmerung seiner Vorstellungskraft bestehen konnte, wenn er sie nicht niederschrieb.

Sobald er die Feder niederlegte, wandte sich sein Blick wieder durch das kleine Fenster in die weite Welt hinaus. Die Sonne ging auf, und seine Seele mit ihr.



© Marcel Becker 2024-12-20

Genres
Novels & Stories
Moods
Emotional, Hoffnungsvoll